Servir-Info 1991

Informationen der Arbeitsgruppe SERVIR


Liebe Freunde des AK Servir,

der Zufall brachte uns in Brasilien mit Clodovis Boff zusammen. Er ist der Bruder von Leonardo Boff, von dem Sie sicher schon einmal gehört haben, und zählt wie er zu den führenden Köpfen der Theologie der Befreiung. Auf unsere Frage, was wir von Deutschland aus tun können, antwortete er folgendes:

"Ich glaube, das erste, was man tun kann, ist, in Europa nach innen eine Kirche der Mitbestimmung des einzelnen, eine demokratische Kirche zu schaffen, und nach außen sich im Sinne der Theologie der Befreiung zu engagieren. Denn die Entwicklung der Kirche ist ein weltweiter Vorgang, wohingegen ihre Entwicklung in einem einzelnen Land stets nur einen Teilprozeß des Ganzen darstellt.

Die Kirche in Europa muß Vorreiter sein. Denn in dem Maße, in dem ihr vorankommt in der Mitbestimmung - participation - und der internationalen Solidarität, hilft uns das viel weiter. Das schafft Sympathien, ein für die weitere Entwicklung günstiges Klima. Dabei ist es wichtig, wie ich glaube, zu Hause anzufangen. Sie sagten, für Europa, gerade auch für die Jugend, sei die Lebendigkeit der Lateinamerikanischen Kirche von großer Bedeutung; für uns ist eine lebendige europäische Kirche gleichermaßen wichtig. Das schafft eine günstige weltweite Atmosphäre, das hilft viel.

Noch etwas anderes: Ich glaube, daß die Armen Brasiliens, die Armen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens nicht nur unsere Armen sind, sondern es sind auch eure Armen. Es sind die Armen einer modernen Gesellschaft, es sind internationale Arme. Die Bewohner von Favelas, landlose Bauern, Obdach - und Arbeitslose sind die Armen von allen. Deutschland hat keine Armen. Wer sind die deutschen Armen? Wer? Das sind die brasilianischen Indios, die Bewohner der Favelas von Rio, das sind die Arbeitslosen von Sao Paulo. Das sind die Armen Deutschlands, weil es Volkswagen z.B. oder Mercedes sind, die diese Art von Kapitalismus hier schaffen. Sie haben keine Sensibilität für die Armen. Sie haben nur eine Sensibilität für Ihre Interessen, für den Luxus, für den Profit. Das ist wichtig für Euch zu wissen. Wir alle sind verantwortlich für Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Menschen dort sind unsere Schwestern und Brüder."

Clodovis Boff ist kein Träumer, er ist Priester einer Pfarrgemeinde mit 60.000 Seelen in Rio de Janeiro, Ordensmann und Dozent an den theologischen Universitäten in Rio und Petropolis. Nach seinem Studium in Leuven (Belgien) hat er sein Leben ganz in den Dienst der Armen seines Landes gestellt. Er reist sehr viel durchs Land und hilft den Basisgemeinden, sich zu organisieren. Seine tagtägliche Begegnung mit dem krassen Gegensatz von Arm und Reich, Elend und Luxus haben ihn dazu veranlaßt, die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, die so etwas möglich machen, genauestens zu analysieren. Seine Aussagen sind von erschreckender Klarheit, sind unangenehm und fordern heraus. Wenn hier deutsche Firmen genannt werden, so stehen sie nur stellvertretend für die vielen multinationalen Konzerne, die die sogenannte Dritte Welt unter sich aufteilen.

Wie treffend seine Analyse ist, wie weit unsere wirtschaftlichen Strukturen Mitschuld an der Verelendung ganzer Völker tragen, wird wohl selbst unter Experten stets kontrovers diskutiert werden. An der Tatsache, daß unser Überwohlstand mitverantwortlich für die katastrophalen Zustände in vielen Teilen der Welt ist, besteht jedoch wohl kaum ein Zweifel. Denken wir daran, wenn wir auf der Straße einen Asylbewerber aus der Dritten Welt treffen. Begegnen wir ihm mit der Offenheit eines lebendigen Christen. Helfen wir ihm, und sei es nur aus der Unsicherheit heraus, daß vielleicht auch er ein Opfer, eine denknotwendige Folge unseres Überwohlstands sein könnte.


Unser Brasilienaufenthalt in diesem Sommer war nicht nur eitel Freude. Er war für alle ein Lernprozeß und hat uns nachdenklicher gemacht. Wo ist Hoffnung? Wo ist die Antwort auf die Probleme, die allen hilft? Man fühlt seine eigene Ohnmacht, sein eigenes Versagen, sein eigenes Unwissen. Und dennoch, der Kontakt mit dem Elend hat uns auch Mut gemacht. Wir sind mit unserem Projekt auf dem richtigen Weg. Unser gemeinsames Engagement trägt erste, bescheidene Früchte. Den Kindern vom Servir und "Caio Martins" geht es vergleichsweise gut. Doch weniger in ihrem leiblichen Wohl liegt die Perspektive, als vielmehr in der Möglichkeit, in einer Welt des Analphabetismus unter Aufsicht ein Grundmaß an Bildung zu erfahren.

Die Kinder von Servir werden dort tagsüber betreut. Sie bekommen je nach Alter zwischen zwei und drei Mahlzeiten am Tag. Sobald sie schulpflichtig sind, gehen sie in zwei Schichten, morgens und nachmittags, an eine staatliche Schule und erhalten am Rest des Tages Hausaufgabenbetreuung in den Gebäuden vom Servir. Sie werden dort auch zu praktischen Tätigkeiten angeleitet. Jeden Abend jedoch, pünktlich um 17:00 Uhr, gehen sie zurück in die benachbarten Elendsviertel, aus denen sie stammen.

Die meisten verlassen Servir in der Regel im Alter von 14 bis 15 Jahren. Dann verschwinden sie häufig von einem Tag auf den anderen Tag, angezogen durch einen Gelegenheitsjob, für ein paar müde Cruzeiros Taschengeld. Doch auch wenn sie das Projekt frühzeitig verlassen, die Jahre dort, die Zuwendung der Betreuer haben sie geprägt. Das, was sie dort an sozialen Verhaltensweisen und an praktischen Fertigkeiten gelernt haben, können sie später an ihre eigenen Kinder weitergeben. Sie haben zumindest eine kleine Chance, dem Teufelskreis des Elends, in den sie geboren wurden, zu entkommen.

In besonderem Maße beeindruckte auch das Konzept der Einrichtung "Caio Martins", an dessen Ausbau wir ebenfalls seit zwei Jahren beteiligt sind. "Caio Martins" ist ein Internat für Jugendliche aus dem Umland von Januaria, die sonst keinerlei Chance hätten, eine Schulausbildung über das dritte Schuljahr hinaus zu erhalten. Dadurch, daß die Jugendlichen hier 6 Jahre lang unter ständiger Kontrolle ihrer Ausbilder sind, werden sie in diesem Projekt nachhaltig zu jungen Erwachsenen geformt und können nach Abschluß dieser Zeit wichtige Funktionen in ihren Dörfern übernehmen. Viele der Internatsschüler sind Kinder von Kleinbauern. Sie erhalten in diesem Projekt eine grundlegende landwirtschaftliche Ausbildung und übernehmen später den kleinen Hof ihrer Väter. Unter der Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse, von den Erwachsenen kann kaum jemand lesen oder schreiben, kann man sie nach Abschluß ihrer Ausbildung im "Caio Martins" durchaus als Entwicklungshelfer in ihren eigenen Heimatdörfern bezeichnen. Eine großartige Perspektive, die ohne Zweifel dazu beiträgt, der immer stärker werdenden Landflucht und der zunehmenden Verelendung entgegenzuwirken.

Eine besonders erfreuliche Nachricht hat uns in den letzten Tagen erreicht. Seit Anfang November verbindet Servir und "Caio Martins", die ja auf benachbarten Grundstücken liegen, eine 1 km lange Bewässerungsleitung mit dem Rio Sao Francisco. Mit dieser Bewässerungsanlage, die von der Weltbank finanziert wurde, eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Immerhin wurden bis jetzt ca. 50 ha Land nicht genutzt, da die große Trockenheit der Region jeden Nutzungsversuch bis jetzt vereitelte.

Servir und "Caio Martins" sind zwei phantastische Einrichtungen, die auch weiterhin unsere volle Unterstützung brauchen und verdienen. Der Einsatz der Leute vor Ort, des Bischofs Anselmo Müller, der Patres, der Schwestern und der vielen freiwilligen Helfer ist bewundernswert. Sie engagieren sich dort neben ihrem eigentlichen Beruf bei einem durchschnittlichen Monatslohn von ca. 200,00DM im wesentlichen alle ehrenamtlich. Ohne sie wäre diese kleine Insel der Hoffnung inmitten unbeschreiblichen Elends nicht denkbar.


Doch auch wir haben in den vergangenen 7 Jahren mit dazu beigetragen, daß die Kinder der beiden Projekte Aussicht auf eine bessere Zukunft erhalten. Waren es Ende November letzten Jahres ca. 145.000,00 DM, die sich seit 1985 aufsummierten, so erhöht sich dieser Betrag in diesem Jahr auf über 200.000,00 DM.

Die Beiträge des Jahres 1991 bis incl. Ende Oktober im einzelnen, auf- bzw. abgerundet in Hunderter:

Spenden 20.400 DM
Dritte-Welt-Laden 2.500 DM
Kuchenverkauf 3.300 DM
Weihnachtskarten 4.100 DM
ALU 4.400 DM
Wandertag für Servir 21.000 DM
Sonstiges 3.100 DM
Insgesamt ca. 58.800 DM

Unter der Rubrik "Sonstiges" verbergen sich Aktionen wie der jährliche Forumsfrühschoppen, der Erlös vom Sextanernachmittag, Kollekte beim Abiturgottesdienst und last not least eine Singgruppe aus der Oberstufe unserer Schule auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt. All dies zeigt, daß mehr und mehr die ganze Schulgemeinschaft sich im Servir einbringt. Dafür allen ein einfaches, aber von Herzen kommendes Danke.


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