Quebra Guiada - oder die Bildung des Herzens

Seit zehn Jahren hilft der Arbeitskreis Servir des Gymnasiums "Maria Königin" (Lennestadt) der gleichnamigen Kindertagesstätte in Januaria, Brasilien. Aus diesem Anlaß besuchte eine Gruppe von zehn Schülern und ehemaligen Schülern im Juli/August dieses Jahres zusammen mit einem Lehrer das Projekt vor Ort. Während die fünf Mädchen 17 Tage im Servir und im "Pequeno Davi" in Januaria arbeiten, halfen die Jungen im etwa 30 km entfernten Quebra Guiada beim Bau einer Casa de Farinha.

Von Werner Liesmann

Am Tage nach unserer Ankunft in Januaria war es endlich soweit. Am frühen Nachmittag des 16. Juli fuhr ein LKW, beladen mit Zelten und Verpflegung und natürlich mit uns als wertvollstem Gepäck auf der Ladefläche, zu unserem Einsatzort. Noch wußten wir nicht, was auf uns zukommen würde. Sand, davon hatten wir gehört; kein Strom, o.k.; keine sanitären Anlagen, was soll's. Wir waren bereit, uns überraschen zu lassen.

Nach zehn km asphaltierter Straße bog der Wagen auf eine schmale Sandpiste ab. Von da ab wurde es ungemütlich. So lange es nur der Sand war, der uns schnell wie in Eigelb getränkte Koteletts mit einer Panda umhüllt, ging es ja noch. Aber dann wurde das Gelände unwegig. Tiefe Löcher wechselten in schneller Folge mit waschbrettartigen Pistenteilen, die, verstärkt durch die ausgeleierten Stoßdämpfer, den Bandscheiben auch der jüngeren Teilnehmer der Fahrt zusetzten. Ich, als ältester Teilnehmer, mußte mich langlegen, anderenfalls wäre das Abenteuer für mich schon mit dieser Fahrt beendet gewesen. So aber ließ es sich aushalten und hatte etwas von der doch so häufig in der Werbung gesehenen "Camel"-Romantik. Nach anderthalbstündigem Geschüttele und Gehopse wurden wir durch lautes Knallen erschreckt. Schon wieder Bandenkrieg, wie in Rio zuvor? Oder waren es die Reifen, die, und jeder hätte es verstanden, nacheinander platzten? Nein, es waren Salutschüsse, die uns freudig begrüßten und die das Ziel unserer Fahrt ankündigten. Die Begrüßung war kurz und herzlich. Alle wußten, daß nur noch wenig Zeit bis zum Untergang der Sonne blieb, und bis dahin mußten die Zelte aufgebaut sein. Die Sonne diktiert hier den Lauf der Dinge, das lernten wir als erstes.

Bild 1 Aus einfachen, selbst gebrannten Lehmziegeln werden die Fundamente für ein neues Haus gemauert

Hier in dem kleinen Ort Quebra Guiada scheint die Zeit vor nicht weniger als 500 Jahren stehengeblieben zu sein. Die Häuser, aus einfachen, selbst gebrannten Lehmziegeln gebaut, bieten vornehmlich Schutz vor der gleißenden Sonne, die das Land austrocknet. Jedes Brett, das der Fluß je angeschwemmt hat, findet Verwendung als Teil einer Tür, eines Tisches, einer Bank oder was sonst auch immer. Ein altes Lenkrad hängt an der Wand im Wohnzimmer des Bürgermeisters. Man ahnt schon, daß es irgendwann für irgend etwas nützlich sein könnte. Es ist einfach zu wertvoll, um weggeworfen zu werden; genau wie die alte Blechdose oben auf der das Zimmer begrenzenden Mauer. Eine rostige Machete, ein kleiner Hammer, ein großer Schraubendreher und anderes Werkzeug stecken zur Aufbewahrung in den Lücken des Mauerwerks. Den Rest des Besitzes beherbergt ein kleiner Schrank. Man sieht ihm an, daß seine Türen keine Originale sind. In der aufgesetzten Glasvitrine liegen in bunter, ungeordneter Reihe Blechtassen aus Aluminium, Gläser, Konservendosen. Ein kleiner Plastikbeutel mit Wasser hängt drohend in einer Ecke des Zimmers; er soll Mücken vertreiben. Für die Geister sind offenbar der Papst und der Bischof zuständig, deren Konterfeis, als Fotos gut plaziert, an der Wand hängen. Sie bilden zusammen mit einigen Prospekten von Supermarktketten ein knappes Quadratmeter Tapete, die das Einerlei der Ziegel auflockert. Ein Sicherheitsschloß an der Haustür verrät, daß es hier etwas zu stehlen gibt, nur was, das bleibt uns verborgen.

Bild 2 Tisch, Schrank und Bank des Wohnzimmers sind gefertigt aus Brettern, die der Fluß anschwemmt

Vom Wohnzimmer aus führt eine kleine Tür zur Küche. Auch hier gibt es, wie in den anderen Räumen auch, keine Zimmerdecke. Sollte eine Tür mal klemmen, so gelangt man ohne Schwierigkeiten über das Mauerwerk von einem Raum in den anderen. Auf einem dicken Lehmbrett an der hinteren Seitenwand der Küche brennt ein offenes Feuer. Der Rauch zieht fast ungehindert durch die lückenhaften Dachziegel. In einem verbeulten Aluminiumtopf bereitet die Frau des Hauses unser Mittagessen. Wann hat sie zum letzten Mal wohl solche Mengen Fleisch zubereitet? Es wurde eigens für uns, zusammen mit anderen Lebensmitteln, aus Januaria angefahren. Katzen, Hunde, Hühner und Schweine laufen unbekümmert über den eingeschlemmten Sandboden der Küche; ein reges Kommen und Gehen, so als wenn sie zur Familie gehörten.

Bild 3 Das Wasser ist knapp, und so ist es ein kostbares Gut

Und während die sengende Sonne im immer gleichlaufenden Rhythmus des Tages die Armut der Kleinbauern vergrößert, geht das Leben im Gelände seinen gewohnten Gang. Geraldo schneidet schon seit einer Stunde seinem Pferd die Mähne. In Europa wäre er sicher ein "Coiffeur Cheval" mit drei Sternen. Zwei Frauen schreiten den langen Weg vom Fluß zurück. Auf ihrem stolzen Haupte zwei weit ausladende Schüsseln mit Wäsche und Geschirr. Die Dorfälteste fegt mit einem einfachen Reiserbesen durch den Sand des Geländes und reinigt ihn von Laub und dem Kot der Tiere. Der vierjährige Wele, zusammen mit seinem achtjährigen Bruder Wemerson, jagt mutig die Rinder zurück hinter das Gatter, das diese heute schon zum zweiten Mal mit Erfolg überlistet haben. Das ist das Leben hier, und das teilen wir jetzt schon mehrere Tage lang mit den Anwohnern; ohne fließendes Wasser, ohne die gewohnten sanitären Anlagen, ohne Elektrizität. Der einzige Fortschritt hier: Kofferradios, die in gewohnter brasilianischer Lautstärke aus den Häusern heraus das Gebell der Hunde und das Geschrei der Hähne übertönen. Ein hohes Lied der Programmvielfalt! Pünktlich mit einem der vielen ersten Hahnenschreie beginnt unser täglicher Einsatz. Morgentoilette mit einer Tasse Wasser aus den Mineralwasserflaschen, die wir mitgebracht hatten. Zähne putzen, Gesichtswäsche, alles in einem. Das Wasser ist knapp. Eine Lage Sonnenöl, eine Schicht Repellent gegen die Mücken, schon fertig. Homiusso, unser Bürgermeister, steht schon bereit. "0 cafe da manha e pronto", was so viel heißt wie: "Der Kaffee ist fertig". Wir wissen, was sich hinter diesen Worten verbirgt. Die schwarzgräuliche Flüssigkeit läßt nur unter Zugabe von Koffeintabletten die aus Europa gewohnte Wirkung spüren. Aber was ist schon ein Tag ohne Frühstück?

Bild 4 Wele, der Dreikäsehoch, jagt das Schwein aus der Stube und spielt mit ihm wie Kinder bei uns mit einem Hund

Gestärkt geht es an die Arbeit. Acht mal fünfzehn Meter soll die "Casa da farinha" werden, ein Gemeinschaftshaus für das Dorf, in dem das gemahlene Maniokmehl und andere Erzeugnisse, die für den Verkauf in Januaria bestimmt sind, gelagert werden sollen. Gleichzeitig ist sie als Refugium für die Inselbewohner geplant, wenn der Fluß mal wieder über die Ufer tritt. Selbstredend dient es später auch mit seinen für das Umfeld gewaltigen Ausmaßen als Gemeinschaftszentrum, in dem Feste, wie natürlich auch Messen, gefeiert werden sollen. Acht mal fünfzehn Meter, das bedeutet mit den zusätzlichen Zwischenwänden einen Graben von fast 60 m Länge, 50 cm Breite und nicht weniger Tiefe. Alles kein Problem, wenn da das Werkzeug nicht wäre. Während die eine Hacke problemlos in den Boden dringt, leistet die andere erfolgreich Widerstand. Nur gepaart mit äußerster Kraft, arbeitet man sich langsam in den Boden vor. Das Thermometer zeigt 35 Grad, man wünscht sich wenigstens einen Hauch von Wind. Vergeblich, auch eine Kaffeepause nach drei Stunden schafft nur wenig Erleichterung. Inzwischen ist zwar ein wenig Wind aufgekommen, aber jeder zählt nur noch die Minuten bis zum almoco, dem Mittagessen, das gleichzeitig eine dreistündige Mittagspause einleitet.

Bild 5 Mittagsruhe im Schatten der großen Zelte. Die Kinder warten geduldig, bis die Fremden wieder ansprechbar sind

Wie jeden Tag wird das Mittagessen im Haus des Bürgermeisters eingenommen. Fejão mit Reis gibt es wieder einmal, dazu Bratkartoffeln, Fleisch und Salat. Im Gegensatz zum Frühstück ist es ein Festschmaus, der uns beschämt. Nur allzu gut wissen wir, daß Elsa, die Frau des Hauses, so etwas in der Regel nur äußerst selten für ihre eigene Familie zubereiten kann. Das Allertagesgericht hier, bei den Ärmsten der Armen, heißt eben nur Fejão und Reis, eine braune Bohnenbrühe mit Reis. Während wir mit großem Appetit eine Platte nach der anderen leeren, wartet eine Hühnerfamilie am Boden auf Dinge, die herunterfallen. Als sich ein mageres kleines Schwein hinzugesellt, wird es von Wele, dem kleinen Dreikäsehoch, aus der Stube gejagt. Trotzdem werden wir das Gefühl nicht los, daß wir alle, zusammen mit den Tieren, eine große Familie sind. Schnell vergehen die zwei Stunden Mittagsruhe im Schatten der Zelte. Homiusso weckt uns fürsorglich mit Kaffee. Danach geht es mit frischem Schwung weiter. Die Arbeit geht jetzt leichter von der Hand, denn es sind nur noch zwei Stunden bis zum Feierabend. Irgendwann deutet die unaufhaltsam dem Horizont zueilende Sonne an, daß es höchste Zeit für ein Bad im Fluß ist, denn wer will schon mit der Taschenlampe zurück ins Lager. Ein Wohlgefühl, wenn der Schweiß des Tages sich mit dem Wasser des Rio São Francisco vermischt. Wir haben diese Minuten am Fluß stets genossen, trennten sie doch den Tag in zwei Hälften. Arbeit, Hitze und Schweiß waren beendet. Das fühlten wir, während sich unsere erhitzten Körper im Fluß abkühlten. Die Angst vor Piranhas verschwand spätestens am dritten Tage, und das, obwohl wir schon bald ihre Zähne kennenlernen sollten.

Bild 6 Die Ziegeln werden mit der Schubkarre zur 100 Meter entfernten Baustelle gekarrt

Eine halbe Stunde später ist es bereits dunkel. Das Abendessen wird im Schein einer Gaslampe eingenommen. Jedes Mal, wenn ich gerade den vor mir liegenden Piranha nach Gräten untersuche, hebt Andreas zur linken die Hand und wirft tödliche Schatten. Der Fisch ist plötzlich schwarz wie seine nächtliche Umgebung. Grätensuche unmöglich. Muß die Lampe ausgerechnet in der Ecke des Zimmers leuchten? Trotzdem, der Fisch schmeckt gut und wir alle wissen, daß der schönste Teil des Abends erst noch beginnt.

Bild 7 Trotz der großen Armut in Quebra Guiada Fröhlichkeit bei den Kindern

Den Platz zwischen unseren zwei Zelten, gerade mal vier mal fünf Meter, hatten wir gleich am ersten Tage mit einer schwarzen Kunststoffolie ausgelegt, das Parkett unseres Wohnzimmers unter offenem Himmel. Hier fand der Sand nur schwerlich Zugang, es sei denn, mit Hilfe des allgegenwärtigen Windes. Hier konnte man ein Kissen oder eine Decke nehmen und sich unbedenklich auf den Boden setzen. Diesen kleinen Luxus leisteten wir uns jeden Tag nach dem Abendessen, und noch einen, eine Dose "Cerveja" oder auch Bier. Ganz dabei sollte es in der Regel nicht bleiben, denn die Abende im Schein einer Gaslampe wurden zum Teil doch unerwartet lang. Schnell füllte sich unser Wohnzimmer mit Dorfbewohnern, und bald schon wurde aus dem Wohnzimmer eine Dorfkneipe. Natürlich teilten wir alles, was wir hatten, mit unseren Gastgebern, und schnell kam diejenige Vertrautheit auf, die einem Kennenlernen gut tut. "Woher kommt ihr?", fragt Homiusso. "Aus Deutschland" - "Ist das weit von hier?" - "Ja, sehr weit!" - "Weiter als Rio?" - "Ja, viel weiter!" - "Kann man da mit dem Bus hinfahren?"... Die Fragen auch der anderen Dorfbewohner nehmen kein Ende. Und als sie im Anblick des überwältigenden südlichen Sternenhimmels erfahren, daß einer der Teilnehmer "Professor" für Physik ist, sprudelt aus ihnen heraus: "Was sind Sterne? Sind sie weit weg? Können sie runterfallen?" Wir erkennen bald, was diesen Menschen fehlt, doch für Überheblichkeit kein Anlaß. Ihre Bildung ist die des Herzens, und da sind sie uns mindestens ebenbürtig, auch ohne Schulen. Die Kinder, die sich wie Orgelpfeifen in vorderster Runde um die Gaslampe gruppieren, interessiert das alles nicht. Sie sammeln die leeren Bierdosen und suchen Blickkontakt. Ein kleiner Finger streckt sich vorsichtig nach vorne und möchte Tobias berühren. Der reagiert wie bei einem deutschen Kind und bald schon ist die Angst verflogen. Und dann kommt die Frage aller Fragen für die Brasilianer, die der Verlegenheit für uns. "Wie heißt Du?"

Bild 8 Ein Drei-Sterne-Friseur: Geraldo schneidet schon seit einer Stunde seinem Pferd die Mähne

Es dauert lange, bis alle Namen ausgetauscht sind. Danach kennen wir uns schon viel besser und beginnen gemeinsam zu singen. Was aber, wie aber, wo doch der eine des anderen Sprache nicht spricht? Man einigt sich, erst singen wir Deutsche und danach die Brasilianer. Wir hatten keine Probleme dank eines kleinen Liederbuches, in das wir gemeinsam im Licht einer Taschenlampe schauten. Probleme gab es bei den Brasilianern, die sonst doch so sangesfreudig sind. Auch hier zeigte sich die Armut und das Fehlen jeglicher Schulbildung. Hier in Quebra Guiada singt man zwar auch gerne, aber man kennt allenfalls die Schlager, die im Moment im Radio laufen. Zum Schluß finden wir dann doch noch eins, das wir gemeinsam singen können. Das Alleluja von Taizé.

Natürlich haben wir nicht jeden Tag Fundamente ausgeschachtet, aber jeden Tag mit Ausnahme der Sonntage haben wir sechs bis sieben Stunden zusammen mit den Einheimischen am Bau der Casa da Farinha gearbeitet. Was sich täglich wiederholte, war die Zeit, die Zeit des Essens, die Zeit der Arbeit und die Zeit der abendlichen Gemeinschaft. Normales Leben eben zusammen mit Menschen, die völlig anders leben als wir; Menschen, die wir vorher nicht kannten und die wir nicht vergessen werden. Der Bürgermeister hatte Tränen in den Augen, als wir Abschied nahmen.


Werner Liesmann ist Vorstandsvorsitzender des Servir e.V.


Quelle: Sendbote - Zeitschrift der Missionare der Heiligen Familie - Dezember 1995, Januar 1996


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