Es gibt viele Raouls in den USA

Der Fall des elfjährigen Raoul ist nur einer von Tausenden. Minderjährigen in US-Gefängnissen werden fundamentale Rechte verweigert.

Von Bernd Kastner

Es ist, als hätte jemand einen grellen Spot auf ihn gerichtet. Plötzlich taucht überall der Name Raoul auf. Mit ihm das Gesicht eines elfjährigen Jungen, ein Gesicht, das so unschuldig wirkt, daß man es mögen muß. Jeder kennt Raoul inzwischen, jeder weiß, was man ihm in den USA vorwirft. Viele glauben aber auch zu wissen, daß er unschuldig ist - sein muß. Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob der Junge seine kleine Schwester sexuell belästigt hat oder ob alles einer schwer verständlichen Prüderie und Hysterie zuzuschreiben ist. Unabhängig von der Schuldfrage: Wie die US-Behörden mit ihm umgegangen sind, verletzt die UNO- Kinderrechtskonvention.

Was unterscheidet Raoul Wüthrich von Tausenden anderen Kindern und Jugendlichen, die in den USA ebenso Opfer der Justiz werden? Die ins Gefängnis müssen, weil sie die Schule geschwänzt, weil sie gegen ein Hausarrest oder eine Ausgangssperre verstoßen haben, oder weil sie Graffiti an die Wand gesprüht haben. Das Licht der Öffentlichkeit hätte auch auf Yazi fallen können. Er hatte zwei Flaschen Bier gestohlen und mußte dafür in ein staatliches Gefängnis für Erwachsene in Cottonwood, Idaho. Yazi war "schon" 16 Jahre alt, als er zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Was Yazi Plentywounds, den Jungen indianischer Herkunft, aber noch mehr von Raoul unterscheidet: Raoul ist US-Bürger und Schweizer. Also einer aus Europa, einer "von uns". Das rührt.

Bild 1 Raoul bei der Ankunft in der Schweiz nach seiner Freilassung Mitte November.

Wäre es anders, müßte auch Nicholaus Contreras jedem ein Begriff sein. Er saß in der Jugendstrafanstalt "Arizona Boys Ranch". Weil man glaubte, ihn besonders bestrafen zu müssen, sperrte man ihn Anfang Februar 1999 viermal in Einzelhaft. Nicholaus hatte ohne vorherige Erlaubnis zu Angestellten des Gefängnisses gesprochen und flüssige Reinigungsmittel an seinen Arbeitsplatz getragen. Beides ist verboten. Gegen Ende des Monats dieselbe Strafe. Diesmal hatte er sich "beim Sport nicht genügend angestrengt". Am 2. März abermals Einzelhaft. Er hatte einen Angestellten, der ihn wegen seiner "lethargischen Einstellung" zum Sport gerügt hatte, nicht genügend beachtet. Noch am selben Tag starb Nicholaus Contreras - ein Aufseher hatte ihm beim Liegestütz "geholfen".

Von den meisten minderjährigen Häftlingen war noch nie der Name in der Zeitung zu lesen, geschweige denn ihr Bild zu sehen. Sie bleiben anonym, tauchen allenfalls als Bestandteil einer Statistik auf: als einer der etwa 4000 Minderjährigen, die in Gefängnissen für Erwachsene inhaftiert sind. Oder als einer der 70, die in amerikanischen Todestrakten sitzen und zur Tatzeit noch keine 18 Jahre alt waren. Ihr Todesurteil verstößt gegen die UNO- Kinderrechtskonvention. Doch die USA sind neben Somalia der einzige UNO- Mitgliedsstaat, der diese noch immer nicht ratifiziert hat.

Ob allein ein amerikanisches Ja zur Kinderrechtskonvention die Justiz schon "farbenblind" machen würde? Wer keine weiße Hautfarbe hat in den USA, ist anscheinend noch immer ein Amerikaner "zweiter Klasse". Das gilt für Erwachsene, aber auch für Kinder. Nur 15 Prozent der zehn- bis 17jährigen US-Bürger sind schwarz. Aber sie stellen 30 Prozent der Verhafteten in dieser Altersgruppe. Und 40 Prozent der Insassen von Jugenstrafanstalten. Und 50 Prozent der Fälle, die Jugendgerichte an Erwachsenengerichte verwiesen.

Raoul - dieser Name ist inzwischen zum Symbol für die unmenschliche US-Justiz geworden. Es mag zynisch klingen: Vielleicht hilft der Junge mit den traurigen Augen und dem Schweizer Paß so manch anderem Kind. Dann vielleicht, wenn nicht nur durch halb Europa ein Aufschrei der Empörung geht, sondern davon auch etwas in den USA zu hören ist.


Quelle: ai-Journal - Das Magazin für die Menschenrechte von amnesty international - Dezember 1999

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