10 Jahre UNO-Kinderrechtskonvention

Geboren am 20. November 1989

Vor zehn Jahren wurde die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verkündet. "Das Wohl des Kindes" sollte fortan Leitsatz allen staatlichen Handelns sein. Stellen wir uns ein Kind vor, das an diesem Tag geboren wurde, in einem beliebigen Land dieser Erde. Wie ist es um sein Wohl bestellt?

Von Bernd Kastner

Dies ist eine fiktive Geschichte, und doch eine wahre. Es ist die Geschichte eines Kindes, das am 20. November 1989 geboren wird. Es kann nicht wissen, was am selben Tag in New York geschieht. Wahrscheinlich wissen nicht einmal seine Eltern, daß sich die Weltgemeinschaft auf etwas einigt, das die Rechte ihres Kindes schützen soll. Es ist eine Konvention der Vereinten Nationen, die "das Wohl des Kindes" zum Prinzip erhebt, eine Erklärung, die erstmals die sozialen und wirtschaftlichen, die bürgerlichen und politischen Rechte in einem Atemzug nennt - und garantiert.

Es ist ein besonderer Tag, dieser 20. November 1989. Für die Eltern "unseres" Kindes, aber eigentlich für alle Kinder dieser Welt. Das "Übereinkommen über die Rechte des Kindes" hat viele Väter und Mütter. So erfreulich es ist, daß alle Staaten diese Erklärung ratifiziert haben - ausgenommen Somalia und die USA - um so bedauerlicher ist es, daß all die schönen Worte über die Rechte des Kindes in vielen Staaten nicht mehr als Lippenbekenntnisse sind.

"Unser" Kind, das an diesem Novembertag zur Welt kam, ist jetzt zehn Jahre alt. Nehmen wir einmal an, es lebt in Kolumbien. Es kann Glück haben und in behüteten Verhältnissen aufwachsen. Wahrscheinlicher aber ist, daß es kämpfen muß. Gegen andere Kinder. Kein Spiel, sondern bitterer Ernst, was unzählige Kinder erfahren, die als Soldaten in Kolumbien eingesetzt werden. Nicht, weil sie Lust auf oft tödliche Abenteuer hätten. Sondern weil Erwachsene sie dazu zwingen. 6.000 Minderjährige kämpfen dort im Bürgerkrieg. Auf allen Seiten. Viele von ihnen sind erst acht Jahre alt.

Kolumbien ist keine Ausnahme: Weltweit schätzt man die Zahl der minderjährigen Soldaten auf rund 300.000. Sie werden zum Töten erzogen - und zum Sterben. In Uganda ebenso wie in Sri Lanka. "Sie rekrutieren auf dem Marktplatz", berichtet ein tamilischer Junge aus Sri Lanka. "Einer meiner Freunde ging mit ihnen. Er war zehn. Er schlug die Trommeln, wenn jemand getötet wurde. Er sagt, daß es sehr furchteinflößend war im Lager. Er hielt eine Granate und hatte ein Gewehr in der Hand."

Bild 1 Verletztes Kind im Bürgerkrieg in Sri Lanka.

Von einer Pflicht zum Kämpfen ist keine Rede in der Kinderrechtskonvention. Aber, und das ist einer ihrer größten Mängel, sie sieht 15 Jahre als Mindestalter für Soldaten vor. Eine breite Koalition aus Nicht- Regierungsorganisationen und Regierungen will nun erreichen, daß dieses Alter auf 18 Jahre heraufgesetzt wird. Immerhin, die UNO rekrutiert schon keine Minderjährigen mehr für ihre Friedenstruppen. Die Bundesregierung sollte es ihr gleichtun und künftig grundsätzlich keine 17jährigen Soldaten mehr aufnehmen - auch nicht auf freiwilliger Basis.

Nehmen wir nun an, "unser" Kind lebt in Australien. Ein gutes, ein sicheres Land? Im Prinzip ja - aber nicht für alle. Nehmen wir weiter an, "unser" Kind gehört zur Gruppe der Aborigines und lebt im Nördlichen Territorium. Vielleicht macht es bald dasselbe durch wie vor zwei Jahren die zwölfjährige Edith. Sie wurde festgenommen, weil sie Nahrungsmittel gestohlen hatte. Sie brauchte die Lebensmittel für sich, aber auch für andere hungrige und vernachlässigte Kinder. In ihrer Obhut war ein Säugling, auch für ihn mußte sie sorgen. Edith wurde über Nacht in einem Erwachsenengefängnis festgehalten und dann entlassen - mit der Anordnung, sich bei ihren Verwandten aufzuhalten. Edith mißachtete die Weisung, weil sie "ihren" Säugling im Krankenhaus besuchen wollte. Deshalb wurde sie erneut festgenommen und für zwei Wochen inhaftiert. Ein Jahr später wurde Edith zu 21 Tagen Gefängnis verurteilt. Absitzen mußte sie die Strafe in Don Dale, dem einzigen Jugendgefängnis in der Provinz - 1500 Kilometer von ihrer Familie entfernt.

Bild 2 Kinder australischer Ureinwohner werden überdurchschnittlich oft inhaftiert.

Es ist nicht übertrieben, solch ein Schicksal auch für "unser" Kind zu befürchten. Zwar ist nur jeder dritte Minderjährige im Territorium ein Ureinwohner, doch in den Gefängnissen stellen sie über 90 Prozent der jugendlichen Häftlinge. Zufall? Kaum, denn in vielen Ländern der Welt werden arme Kinder indigener Völker und von Minderheiten weit häufiger inhaftiert als andere, werden viel öfter Opfer von Mißhandlungen und Folter durch Sicherheitskräfte. Auch in Europa: In vielen Ländern Mittel- und Osteuropas werden Kinder von Roma-Eltern als Bürger zweiter Klasse geboren. Sie wachsen unter ständiger Erniedrigung auf, werden von Privatpersonen ebenso diskriminiert wie von staatlichen Kräften. In Ungarn, Rumänien, der Tschechischen Republik, der Slowakei zum Beispiel haben es die Regierungen bisher versäumt, Menschenrechtsverletzungen gegen Roma zu ahnden. Der Staat schaut zu, wenn Roma- Kinder Opfer des weitverbreiteten Rassismus werden.

Stellen wir uns vor, "unser" Kind ist vor zehn Jahren in Myanmar (früher Birma) zur Welt gekommen, genauer: in der Provinz Shan. Gut möglich, daß es schon seit Jahren hart arbeiten muß. Die Armee hat in den vergangenen drei Jahren Hunderttausende Menschen aus Shan zwangsweise umgesiedelt. Viele von ihnen, auch Kinder, müssen schwer arbeiten: im Straßenbau, beim Holzfällen, beim Transport von Teakstämmen, beim Bau von Militärunterständen, ja sogar beim Bau eines buddhistischen Tempels. Kinder zwischen acht und 15 Jahren werden bei diesen Projekten ausgebeutet, berichteten Shan-Flüchtlinge.

Bild 3 Auch minderjährige Soldatinnen kämpfen gegen die Regierung von Myanmar.

Myanmar ist kein besonders krasses Beispiel, schon gar keine Ausnahme: In Jakarta etwa, der Hauptstadt Indonesiens, arbeiten rund 700.000 Kinder in privaten Haushalten. In Brasilien ist fast jeder vierte Dienstbote ein Kind, mancher dieser "Hausangestellten" gerade einmal fünf Jahre alt. Meist aber sind es Mädchen im Teenager-Alter. Der Grund liegt auf der Hand: Sie sind doppelt zu "gebrauchen" - auch als "Sex-Sklavinnen".

Nehmen wir an, "unser" Kind ist ein Mädchen, geboren in Afrika, in Sierra Leone. Dann hat es das schlimmste Erlebnis seines jungen Lebens wahrscheinlich schon hinter sich, so wie Hannah Yambasu. "Ich wurde im Alter von zehn Jahren verstümmelt", erzählt sie. Heute arbeitet Hannah Yambasu für amnesty international in ihrem Land und ist die Frauenbeauftragte der Organisation. "Ich wurde von vier starken Frauen gezwungen, flach auf dem Rücken zu liegen. Zwei von ihnen hielten jeweils ein Bein fest. Eine andere Frau saß auf meiner Brust, um zu verhindern, daß mein Oberkörper sich bewegte. Ein Stück Stoff wurde in meinen Mund gepreßt, damit mein Schreien aufhörte. Als der Eingriff begann, wehrte ich mich heftig, denn der Schmerz war furchtbar und unerträglich. Ich wurde mit einem stumpfen Taschenmesser beschnitten."

Von weiblicher Geschlechtsverstümmelung spricht man, wenn die Genitalien ganz oder teilweise amputiert werden. Die schlimmste Form ist die "Infibulation", die vollständige Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen. Die Vulva wird zusammengenäht, nur eine kleine Öffnung für Urin und Menstruationsblut bleibt offen. In Afrika wird die Geschlechtsverstümmelung in 29 Staaten praktiziert, auch in einigen Ländern des Mittleren Ostens kommt sie vor. Man schätzt, daß weltweit etwa 100 Millionen Mädchen und Frauen Opfer wurden; jedes Jahr erleiden allein in Afrika zwei Millionen Mädchen diese grausame Prozedur. Es ist nicht der jeweilige Staat, der auf diese Weise das fundamentale Recht auf körperliche Unversehrtheit der Mädchen verletzt. Die weibliche Genitalverstümmelung ist tief in der Tradition verschiedener Ethnien und Gesellschaften verwurzelt. Es gilt also, sich einfühlsam diesem Thema zu nähern, vor allem Aufklärungsarbeit in den betroffenen Ländern zu leisten. Nur so kann erreicht werden, daß die Zahl der Verstümmelungen langsam zurückgeht. Erste Erfolge gibt es bereits: Einige Regierungen haben sich verpflichtet, diese Praxis einzudämmen. Die Côte d´Jvoire etwa hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die weibliche Genitalverstümmelung verbietet. In Ägypten, wo 90 Prozent aller Mädchen zwischen drei und sechs Jahren beschnitten werden, ist der Eingriff in staatlichen Krankenhäusern verboten.

Wann werden die Rechte Realität, die vor zehn Jahren feierlich verkündet wurden? Gerade die Rechte für die Jüngsten sind die Bausteine für eine Kultur der Menschenrechte, die für künftige Generationen gesichert werden muß. amnesty international will ihren Teil dazu beitragen und hat zum zehnten Jahrestag der Kinderrechtskonvention eine Aktion gestartet. "Die Zukunft", so das Motto, "beginnt hier und heute".

"Vieles, was wir brauchen, kann warten", hat die chilenische Dichterin und Politikerin Gabriela Mistral einmal gesagt: "Ein Kind nicht."


Quelle: ai-Journal - Das Magazin für die Menschenrechte von amnesty international - Dezember 1999

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