Kinder im Visier

In Südasien kommt es regelmäßig zu Gewalt gegen Kinder und Jugendliche obwohl jeder Staat der Region die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert hat. In einem 50seitigen Bericht dokumentiert amnesty international den täglichen Bruch dieses Übereinkommens.

Von Jennifer Eschweiler

Der Lumpensammler Rajesh wird im Mai 1996 in den Straßen von Trivandrum, der Hauptstadt der Provinz Kerala im Süden Indiens, von der Polizei aufgegriffen und in einen Jeep gedrängt. Ihm werden keine Gründe für seine Festnahme genannt, aber bereits während der Fahrt beginnen die Polizisten, ihn zu schlagen. Seiner Mutter gegenüber leugnet man die Anwesenheit des 14jährigen auf der Polizeistation und warnt sie vor rechtlichen Schritten. Um seine Spuren zu verwischen, wird Rajesh von einer Wache zur anderen verlegt. Von der Mutter will man Geld erpressen. Erst nachdem höchste Stellen eingeschaltet werden, kommt Rajesh nach zwei Wochen frei. Die Verletzungen, die ihm im Gefängnis durch Polizisten zugefügt wurden, müssen im Krankenhaus behandelt werden.

Bild 1 Der indische Lumpensammler Rajesh (14) mußte nach Mißhandlungen auf einer Polizeiwache im Krankenhaus behandelt werden.

In Bangladesch befindet sich die 14jährige Yasmin Akhter auf dem Nachhauseweg, als drei Polizisten ihr eine Mitfahrgelegenheit anbieten. Kaum sitzt sie im Auto, vergehen sich die Beamten an ihr. Mehrfach wird sie vergewaltigt. Yasmin stirbt an den ihr zugefügten Verletzungen. Die Polizisten versuchen, die Tat zu vertuschen. In ihrem Bericht heißt es, Yasmin sei eine Prostituierte gewesen, die bei einem Fluchtversuch aus dem Auto tödlich verunglückt sei. Öffentliche Proteste und eine gerichtliche Untersuchung bringen in diesem Fall allerdings die Wahrheit ans Licht. Die Festnahme und Verurteilung der Polizisten hat Seltenheitswert.

Übergriffe von Vertretern der Staatsmacht gegen Kinder und jugendliche sind in der Region keine Ausnahme. Immer wieder werden Minderjährige unrechtmäßig festgenommen und müssen mit Gewalttätigkeiten oder sexueller Mißhandlung rechnen. In Pakistan beispielsweise wird die gesetzlich vorgeschriebene Behandlung von jugendlichen Straftätern ständig ignoriert. Von 1204 inhaftierten jugendlichen im Gefängnis von Punjab sind nur 66 überführt und verurteilt worden. Die anderen, warten auf ihre Prozesse, oftmals jahrelang und häufig nur wegen kleinerer Straftaten. Nach Schätzungen der pakistanischen Menschenrechtskommission werden nur 13 bis 17 Prozent der inhaftierten jugendlichen verurteilt, die anderen werden irgendwann ohne Strafe oder Prozeß wieder freigelassen.

Auch die Todesstrafe wird an Kindern und Jugendlichen vollstreckt. In Pakistan wurden im Zentralgefängnis von Hyderabad im September 1997 zwei Menschen hingerichtet, die während eines Einbruchs drei Wachbeamte getötet hatten. Der eine war Shamum Maseeh, zur Tatzeit 14 Jahre alt. Zwar sollen nach pakistanischem Recht Kinder von der Todesstrafe ausgenommen werden. Sie gelten allerdings mit Erreichen der Pubertät als erwachsen. In Indien gilt ein Junge ab 16, ein Mädchen ab 18 Jahren als volljährig. Ein 16jähriger kann also rechtmäßig zum Tode verurteilt werden.

Jeder Staat in Südasien hat die Kinder-Konvention ratifiziert, die unter anderem Regeln für die Behandlung von jugendlichen Straftätern formuliert. Des weiteren haben alle Staaten die Rechte der Kinder zum Gegenstand besonderer Zusammenarbeit und spezieller Programme im regionalen Zusammenschluß SAARC gemacht. Trotzdem werden Kinder immer wieder Opfer staatlicher Gewalt oder von Übergriffen durch bewaffnete oppositionelle Gruppen.

In Sri Lanka sterben Kinder durch Attentate oder bei Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den "Befreiungstigern" (LTTE), die seit 15 Jahren das Land erschüttern. Kinder sind beliebte Rekruten der bewaffneten Oppositionsgruppe. Kindersoldaten mißachten selten Befehle und gehen weitaus mutiger in den Kampf, da sie sich der Gefahren nicht bewußt sind. Oft werden sie für besonders gefährliche Missionen eingesetzt. Der "Nachwuchs" rekrutiert sich aus Kindern mittelloser Familien oder solchen, die auf der Straße leben. Die LTTE schreckt auch nicht davor zurück, Kinder zu entführen oder sie unter Androhung von Mißhandlung ihrer Familien zu zwingen, sich zu Kämpfern ausbilden zu lassen.

Bild 2 Protestkundgebung in der srilankischen Hauptstadt Colombo, nachdem zwei jugendliche "Verschwundene" tot aufgefunden wurden.

Die Ausbildung zum Töten und die tägliche Gewalt, mit der die Kindersoldaten konfrontiert werden, hinterläßt bei den Überlebenden schwere psychische Schäden. 1994 klagt der 15jährige Raja (Name geändert) in einem Krankenhaus in Jaffna über Schlaflosigkeit und aggressive Ausbrüche. Im Alter von elf Jahren hatte er für die LTTE gekämpft. Alle seine Freunde wurden getötet. Mit Hilfe von Videos über getötete Frauen und Kinder schärfte man ihm das gewünschte Feindbild ein. Raja erzählt von einem Angriff auf mehrere muslimische Dörfer. Dort packte er ein Kleinkind bei den Beinen und schleuderte es mit dem Kopf vor eine Mauer. Raja berichtet von seiner Genugtuung, die er während der Schreie der Mutter empfand.

In der afghanischen Hauptstadt Kabul leidet die Mehrzahl der Kinder unter chronischem traumatischen Streß. Einer UNICEF-Studie zufolge haben in den vergangenen sechs Jahren etwa drei Viertel aller Kinder einen nahen Verwandten verloren. Alle sind Zeugen von Gewalt geworden. Zwei von drei Kindern haben Tote gesehen, 90 Prozent hatten selbst einmal Angst, sterben zu müssen. Diese Erfahrungen hinterlassen tiefe Narben in der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, die häufig unter Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Alpträumen leiden.

Die Kinder-Konvention der UNO sichert Kindern und jugendlichen einen angemessenen Lebensstandard, angemessene Gesundheitsfürsorge, soziale Sicherheit und Bildung zu. Aber durch Landflucht, Armut und Zerbrechen der Familienstrukturen stehen Millionen von Kindern allein da. Sie müssen sich auf eigene Faust auf den Straßen durchschlagen und sind dort besonders schutzlos Gewalt und Ausbeutung ausgeliefert. Mädchen und Kinder aus Randgruppen oder Minderheiten erfahren zusätzlich Diskriminierung und Benachteiligung. Aber auch innerhalb von Familien werden die Rechte der Kinder immer wieder mißachtet. Tausende von Kindern leisten Zwangsarbeit. Mädchen werden zum Zwecke der Prostitution verkauft.

Bild 3 Straßenkinder in Nepal. Kinder in Südasien leben oft zwischen Armut und Gewalt.

Die Hälfte aller Kinderarbeiter weltweit lebt in Südasien. Sie arbeiten in Fabriken, Minen, Ziegelbrennereien oder Bordellen - ohne Rücksicht auf Gesundheit, Erholung und Bildung. Die große Mehrheit der Kinderarbeiter lebt in ländlichen Gemeinden, oftmals als Zwangsarbeiter. Manche sind an die Landbesitzer verkauft worden, um Schulden der Familie auszugleichen. Viele sind in, diese Art Leibeigenschaft hineingeboren worden, da bereits ihre Eltern als Zwangsarbeiter auf diese Weise Schulden abarbeiten. Seit geraumer Zeit wird darüber diskutiert, ob und wie weit Kinderarbeit zur finanziellen Unterstützung der Familien toleriert werden darf. Einige Argumente lauten, daß viele Familien ohne Kinderarbeit nicht mehr ihre Grundbedürfnisse decken können. Allerdings sollte ein Mindestalter beachtet werden. Des weiteren sind Kinder vor Schwer- und Zwangsarbeit sowie Prostitution zu schützen.

Statt die Kinder zu schützen, wird häufig ihre Schwäche ausgenutzt - unter dem Deckmantel von wirtschaftlicher Zweckdienlichkeit, Kultur oder Tradition. Ihre individuellen Rechte werden Familie, Gesellschaft und Obrigkeit untergeordnet. Im 50. Jahr der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte will amnesty international auch das Bewußtsein der Öffentlichkeit für die Situation der Kinder in Südasien schärfen.


Quelle: ai-Journal - Das Magazin für die Menschenrechte von amnesty international - Juni 1998

amnesty international

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