Gestohlene Kindheit

In diesem Jahr wird die Kinderkonvention der UNO zehn Jahre alt. Bis auf Somalia und die USA haben das Übereinkommen vom 5. Dezember 1998 alle Länder ratifiziert. Doch weltweit werden die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Füßen getreten.

Von Dana Schuster

In jüngster Zeit ist immer häufiger die Rede von einer Zunahme der Gewaltverbrechen bei Kindern und Jugendlichen. Das Thema ist in aller Munde: Kinder, die zu Tätern werden, erschüttern die Erwachsenen. Angst wird geschürt, die Rufe nach härteren Strafen werden lauter. Doch oft gehen solche Argumente an der Wirklichkeit vorbei. Denn fast überall auf der Welt werden die Menschenrechte jener Kinder, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, mißachtet.

Oft heißen die "Verbrechen" der Kinder Armut oder Benachteiligung. Folter und Mißhandlung in Polizeigewahrsam, unmenschliche Lebensbedingungen in Gefängnissen, keine oder unfaire Gerichtsverfahren - das ist die Realität in vielen Ländern. Das verstößt gegen die Prinzipien einer Jugendstrafgerichtsbarkeit, die das Wohl des Kinder in den Mittelpunkt stellt.

Bild 1 Indonesische Jugendliche im Tangerang-Haftzentrum in Jakarta.

In der Präambel der Kinderkonvention sowie im Pakt über bürgerliche und politische Rechte sind Richtlinien für die Behandlung von straffällig gewordenen Kindern und jugendlichen festgeschrieben. Ein vorrangiges Ziel sind dabei die Rehabilitation und die Wiedereingliederung des Kindes in die Gesellschaft.

Berücksichtigt werden sollten das Alter des Kindes und seine Lebensumstände. Es gibt aber keine internationale Vereinbarung über eine bestimmter Altersgrenze für die Strafmündigkeit, so daß diese von Land zu Land - zum Teil erheblich - variiert. Regierungen sind aber verpflichtet, die körperliche und geistige Reife und das Bedürfnis nach Fürsorge zu beachten, doch fallen solche Entscheidungen in der Praxis sehr unterschiedlich aus. Eine Altersgrenze von sieben Jahren hält der Ausschuß für die Rechte des Kindes für bedenklich.

Geht es um die konkrete Lebenssituation, so gibt es keinen Hinweis darauf, daß die Altersgrenze bei den Motiven für Straftaten eine Rolle spielt. Gerade die oftmals verzweifelte Lage treibt Kinder und jugendliche zum Konflikt mit dem Gesetz.

Im Nördlichen Territorium in Australien wurde ein zwölfjähriges Aborigine-Mädchen inhaftiert, weil sie für sich selbst und andere vernachlässigte Kinder, darunter ein Baby, Nahrungsmittel gestohlen hatte. Armut und Hunger, das Leben auf der Straße, Kinderarbeit oder Prostitution führen dazu, daß Kinder gegen die Gesetze verstoßen. Ihre Wehrlosigkeit macht sie angreifbar.

Bild 2 Straßenkinder in Nepal. Armut und Hunger führen oft dazu, daß Kinder mit Gesetzen in Konflikt geraten.

Im Mai 1996 wurde im indischen Bundesstaat Kerala ein 14jähriger, der sich mit Lumpensammeln seinen Lebensunterhalt verdient, von Polizisten entführt. Er berichtete, daß diese ihn auf die Fußsohlen geschlagen und seine Fingernägel mit Nadeln durchstochen hätten. Zwar kam er gegen Kaution frei, doch die Gründe für seine Festnahme wurden nicht genannt. Es gibt auch keine Informationen über eventuelle Ermittlungen wegen illegaler Verhaftung und Folter.

Werden Kinder festgenommen und inhaftiert, so sollte dies nur dann geschehen, wenn alle anderen Möglichkeiten des Strafrechts ausgeschöpft sind. Während der möglichst kurzen Haft sollte das Kind Kontakt zur Familie und getrennt von erwachsenen Gefangenen untergebracht werden. Das Kind muß auch Zugang zu einem Rechtsbeistand haben. Erniedrigende Behandlung und körperliche Strafe sind in keinem Fall zulässig.

Doch sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen Kinder tage- und monatelang ohne Anklage und Verfahren gefangengehalten werden. Ihnen wird oft der Kontakt mit Anwälten und Familienangehörigen verweigert. Manche werden gemeinsam mit Erwachsenen inhaftiert, was sie wiederum der Gefahr körperlicher und sexueller Mißhandlung aussetzt. Das ist kein Phänomen der Entwicklungsländer: Auch in mindestens 33 US-Bundesstaaten können Minderjährige zu Haft in Erwachsenengefängnissen verurteilt werden. Im September 1998 waren mehr als 4.000 Kinder und Jugendliche unter diesen Bedingungen inhaftiert.

Bild 3 In vielen Ländern werden Kinder tage- oder auch monatelang ohne Anklage und Prozeß gefangengehalten. Oft werden sie auch zusammen mit Erwachsenen in eine Zelle gesperrt oder nach Erwachsenen-Strafrecht angeklagt. Dies geschieht auch im Fall des 12jährigen mutmaßlichen Mörders Nathaniel Abraham aus den USA.

In vielen Fällen werden Kinder gefoltert und mißhandelt, um Geständnisse zu erpressen. Weil sein Vater wegen politischer Aktivitäten inhaftiert war, wurde im von Israel als Sicherheitszone beanspruchten Südlibanon auch der 14jährige Sohn festgenommen. Nach eigenen Angaben wurde er gefoltert. Bis heute sitzt er ohne Anklage im Gefängnis. In Venezuela wurde im März 1996 eine schwangere 16jährigige - unter tatsächlichem oder konstruiertem Diebstahlverdacht - festgenommen und mehrere Stunden lang von der Polizei brutal verhört. Drei Tage -nach ihrer Festnahme erlitt sie eine Fehlgeburt. Es ist nicht bekannt, ob ihre Foltervorwürfe überprüft wurden.

In den USA, wo die Kinderkonvention nicht rechtsverbindlich ist, sind Kinder häufig Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Oft sitzen. sie wegen geringfügiger Vergehen im Gefängnis - zum Beispiel für Schule - Schwänzen, Alkoholbesitz, Graffiti-Sprühen oder Beschimpfung eines Lehrers. Wachsende soziale Spannungen führen in manchen Gemeinden zu einer Zunahme der Jugendkriminalität. Auf der Grundlage von Bundes- oder eigenen bundesstaatlichen Strafgesetzen können Kinder und Jugendliche nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. Das schließt sogar die Todesstrafe ein: Im April 1998 wurde in Texas Joseph John Cannon mit einer Giftinjektion hingerichtet. Zum Zeitpunkt der Straftat war er 17 Jahre alt gewesen.

amnesty international fordert schon lange, daß die internationalen Prinzipien des Jugendstrafrechts ernstgenommen werden müssen. In der Präambel der Kinderrechtskonvention heißt es, daß "das Kind wegen seiner mangelnden körperlichen und geistigen Reife besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge, insbesondere eines angemessenen rechtlichen Schutzes vor und nach der Geburt, bedarf." Ein wirksamer Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Menschenrechtsverletzungen kann nur dann gewährleistet werden, wenn er von allen Staaten anerkannt und umgesetzt wird. Bis heute ist das nicht geschehen. Mit der UNO-Konvention über die Recht des Kindes wurde vor knapp einem Jahrzehnt ein umfangreiches Instrument geschaffen, um das Wohl des Kindes in allen Bereichen des Lebens zu garantieren. Es ist jetzt die Aufgabe der Staatengemeinschaft, dieses Instrument wirksam anzuwenden.


Quelle: ai-Journal - Das Magazin für die Menschenrechte von amnesty international - Januar 1999

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