Kinder der Waffe

 Leben mit dem Krieg
 Menschliche Regungen austreiben
 Veränderte Persönlichkeiten
 Die Ersten im Krieg, die Letzten im Frieden
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Wie macht man aus einem Kind einen professionellen Mörder? Bewaffnete Gruppen in der ganzen Welt haben dafür ein grausames Verfahren entwickelt: Beraube Kinder gewaltsam ihrer Familien, härte sie körperlich und psychisch gegen Misshandlungen ab und "befördere" sie schließlich in den Kampf.

Von Neil G. Boothby und Christine M. Knudsen

Militärische Befehlshaber in einigen der ärmsten Länder der Welt betrachten es als selbstverständlich, Kinder einzusetzen. Kinder sind wendiger, empfänglicher für Eindrücke und im Notfall leichter zu opfern als erwachsene Soldaten. Sie können an gefahrvollen Kontrollpunkten Wache stehen, Minen aufspüren und die feindlichen Kampflinien unterwandern. Ihre angeborene Empathie kann ihnen durch Gewalt ausgetrieben werden.

Wir mögen versucht sein zu glauben, dass derartige Haltungen selten sind und nur vereinzelt vorkommen. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Tagtäglich werden irgendwo auf der Welt Kinder entführt und zu bewaffneten Verbänden rekrutiert. Schätzungsweise sind gegenwärtig 300000 Kinder aktiv an insgesamt 36 laufenden (oder kürzlich beigelegten) Konflikten in Asien, Europa, Afrika, Amerika und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion beteiligt. In der westafrikanischen Republik Sierra Leone sind etwa achtzig Prozent aller aufständischen Soldaten zwischen sieben und vierzehn Jahre alt. (Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, schätzt die Zahl der dort als Soldaten missbrauchten Jungen und Mädchen auf 5500.) Im Liberianischen Bürgerkrieg von 1989 bis 1997 nahmen Siebenjährige am Kampf teil. Während der Feindseligkeiten in Kambodscha, die nominell in den frühen achtziger Jahren ein Ende fanden, lag das Alter bei rund einem Fünftel der verwundeten Soldaten zwischen zehn und vierzehn Jahren.

Für viele Menschen ruft der Begriff "Kindersoldat" Fernsehbilder von einem Halbwüchsigen herauf, der eine automatische Waffe in der Hand hält. Aber in Wahrheit verwenden sowohl Regierungstruppen als auch irreguläre Verbände Jungen und Mädchen schon ab dem Alter von sechs Jahren. Die jüngeren Kinder dienen zunächst als Spione, Träger, Köche und Nebenfrauen. Sobald sie älter geworden sind, "dürfen" sie Waffen tragen und kämpfen. In manchen Fällen wurden die Kinder ihren Familien entrissen; in anderen Situationen entschieden sie sich um ihres Schutzes und Überlebens willen selbst zum Beitritt in die bewaffnete Gruppe.


Leben mit dem Krieg

In fast zwei Jahrzehnten der Arbeit in Ruanda, Mosambik und Kambodscha haben wir das Ausmaß und die Bedeutung des Problems der Kindersoldaten intensiv erlebt. Trotz des weit verbreiteten Einsatzes von minderjährigen Soldaten sowie jüngster Fortschritte im internationalen Recht, genau dieses zu verhindern, ist das Elend der Betroffenen bisher jedoch niemals in irgendeiner Friedens- oder Abrüstungsvereinbarung erwähnt worden. In Mosambik zum Beispiel, wo ein Viertel der ehemaligen Soldaten des 16 Jahre währenden Bürgerkrieges als Minderjährige eingezogen wurden, fand der Einsatz von Kindersoldaten keine offizielle Anerkennung im Friedensvertrag. Stattdessen führte die Regierung im vergangenen Jahr die Wehrpflicht wieder ein. All jene, die während des Bürgerkrieges zwischen 7 und 13 Jahre alt waren, werden nun per Gesetz erneut zum Militärdienst herangezogen.

Die Nichtbeachtung dieses Problems hat die soziale und psychische Entwicklung einer ganzen Generation von Kindern lädiert. Solange die internationale Diplomatie nicht vehement versucht, den Einsatz von Kindersoldaten zu unterbinden, werden diese Gesellschaften niemals in der Lage sein, die Last der Vergangenheit zu bewältigen.

Nahezu alle Kriege finden heutzutage in Entwicklungsländern statt, wo die Mittel für das Gesundheits- und Erziehungswesen ohnedies schon begrenzt sind. Von den zehn Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeitsrate sind sieben gegenwärtig in eine Auseinandersetzung verwickelt oder waren in den vergangenen fünf Jahren an einem Konflikt beteiligt. Südlich der Sahara ist jedes afrikanische Land entweder durch Krieg verwüstet worden oder grenzt an ein Land, das dieses Schicksal erlitten hat. Da die Kampfhandlungen zudem häufig eine Generation oder länger dauern, erleben Kinder, die in dieser Situation aufwachsen, den Kriegszustand irgendwann als normales Lebensumfeld.

In solch politisch instabilen Verhältnissen kommen junge Menschen fast zwangsläufig mit bewaffneten Gruppen in Kontakt. Die Trennung von Familienmitgliedern während der Flucht oder der Tod der Eltern sind nur zwei Gründe, warum Kinder plötzlich alleine stehen und sich irgendwie durchschlagen müssen. In vielen Fällen mag ihre einzige Möglichkeit zu überleben darin bestehen, sich einem bewaffneten Trupp anzuschließen oder einem Erwachsenen an die Frontlinien zu folgen.

Ein kleiner Junge, den wir in der Demokratischen Republik Kongo trafen, erklärte uns: "Ich schloss mich mit dreizehn der Armee von [Präsident Laurent] Kabila an, da mein Heimatort geplündert worden war und meine Eltern fortgegangen waren. Da ich also auf mich selbst gestellt war, beschloss ich, Soldat zu werden."

Bild 1 Butembo, Zaire, 11. Dezember 1996: Junge Angehörige der Mayi-Mayi-Miliz. Teil der Rebellenarmee von Laurent Kabila besteigen einen Lastkraftwagen, der sie zu den Frontlinien im Osten von Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo) bringt.

In Kambodscha stellten die Vereinten Nationen fest, dass die meisten Kindersoldaten entweder elternlos waren oder sehr armen Familien entstammten; der freiwillige Eintritt in die Armee bot hier eine gute Möglichkeit, Nahrung zu erhalten und etwas Geld für noch lebende Verwandte zu verdienen. Auch können Eltern ihre Jüngsten dazu ermutigen, sich beim Militär zu melden, da sie darin eine Möglichkeit für wirtschaftliches und soziales Fortkommen sehen. Auf der Suche nach Macht und sozialer Anerkennung werden sich Jungen zuweilen aus eigenem Antrieb bewaffneten Splittergruppen anschließen.

Jedoch selbst dann, wenn sich Kinder "freiwillig" in bewaffnete Gruppen hineinbegeben, müssen wir grundsätzlich berücksichtigen, dass sie noch zu unreif sind, um die damit verbundenen Risiken voll und ganz abschätzen zu können oder um zu beurteilen, was in ihrem eigenen Interesse das Beste ist. Sich auf das "Recht" eines Kindes zu berufen, sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen, ist oftmals nichts weiter als eine Entschuldigung derjenigen, die Kinder für ihre eigenen Ziele auszubeuten wünschen. Die begriffliche Unterscheidung zwischen freiwilliger und erzwungener Rekrutierung von jungen Menschen zum Militärdienst ist in vielen Kriegsgebieten im Grunde genommen bedeutungslos.

Regierungstruppen und unabhängige Verbände haben in den letzten zehn Jahren mehrere tausend Kinder entführt oder durch unmittelbare Gewaltanwendung zum Militärdienst gezwungen. Die eklatantesten Beispiele dieser Rekrutierungspraxis finden sich augenblicklich in der westafrikanischen Republik Sierra Leone sowie im Norden von Uganda, wo Milizen Kinder systematisch kidnappen, um ihre Verbände zu vergrößern oder Dorfgemeinschaften zu terrorisieren. Ein dreizehnjähriges Mädchen aus Norduganda beschrieb ihre Entführung wie folgt: "Es war knallhart. Einige Kinder, die zu schwach waren, um zu laufen, wurden einfach mit Pangas [langen Messern] niedergemetzelt und am Wegrand zum Sterben liegen gelassen. Das erschütterte mich außerordentlich. Im Busch wurde ich dann an einen Mann als seine zweite Frau vergeben. Wer sich nicht gebührlich verhielt, wurde gründlich durchgeprügelt."

Der freiwilligen oder erzwungenen Rekrutierung geht häufig eine gezielte ideologische Einflussnahme in Medien und Schule voraus. Während des ersten Golfkrieges erhielten Tausende zehn- bis elfjähriger Jungen im Iran und im Irak den Befehl zum Martyrium und wurden dann in Todeskommandos eingesetzt, wobei die Lehrer ihnen sagten, die Erfüllung ihrer Aufgabe würde ihnen den Zugang zum Himmel sichern. In den achtziger Jahren sahen afghanische Führer, die nach Pakistan verbannt worden waren, den Mangel an religiöser Erziehung in der allgemeinen Öffentlichkeit als Hauptgrund dafür an, dass die Kommunisten die Herrschaft über ihr Vaterland erlangt hatten. Eine afghanische Widerstandsgruppe errichtete nahe Peshawar ein Lager, in dem rund 500 Knaben - die meisten von ihnen Kriegswaisen - zur nächsten Kriegergeneration ausgebildet wurden. Lehrer, die in der einen Hand Stöcke und in der anderen Gebetsketten hielten, zwangen Kinder dazu, Multiplikationstabellen, die Schlechtigkeiten der Kommunisten und das, was sie tun würden, wenn sie groß wären, zu wiederholen. "Ich bin jetzt ein kleiner Junge, deshalb muss ich lernen", sagte uns ein Zehnjähriger. "Wenn ich stark genug bin, um ein Gewehr zu tragen, will ich mich dem Heiligen Krieg anschließen und den Mord an meinem Vater rächen." Die Kinder konnten das Lager erst verlassen, wenn sie alt genug waren, um zu kämpfen - normalerweise im Alter von 13 Jahren.


Menschliche Regungen austreiben

Unsere Arbeit zwischen 1988 und 1995 in Mosambik lieferte tiefe Einblicke in die Art und Weise, wie Gruppen von Untergrundkämpfern Kinder an den Umgang mit Gewalt gewöhnen. Das Hilfsprogramm, das wir einrichteten, sollte ungefähr hundert Kindersoldaten wieder in die Gesellschaft eingliedern. Zwei Drittel von ihnen waren von der Widerstandsbewegung Renamo entführt worden. In deren Basislagern wurde von den Mädchen und Jungen verlangt, den erwachsenen Soldaten bedingungs- und emotionslos zu dienen. Belohnungen umfassten zusätzliche Verpflegung, Komfort sowie die Beförderung vom Status des Dienenden über den des Leibwächters bis hin zum vollgültigen Kämpfer. Erwachsene setzten auf körperliche Misshandlungen und Demütigungen als die hauptsächlichen Instrumente der Indoktrination. Ein vierzehnjähriger Junge erinnerte sich: "Manchmal - nur so zur Belustigung - zwangen die Banditen Kinder dazu, vor ihren Augen gegeneinander zu kämpfen. Ich galt als guter Kämpfer, da ich stark war und wirklich gewinnen wollte. Aber einmal zwangen sie mich, gegen einen Erwachsenen zu kämpfen, und dieser schlug mich." In einer ersten Phase der ideologischen Beeinflussung versuchten die Renamo-Mitglieder die Kinder emotional abzuhärten, indem sie jeden bestraften, der anderen Hilfe anbot oder Gefühle gegenüber misshandelten Personen zeigte. Ein Zwölfjähriger beschrieb, wie ihm die Furcht ausgetrieben wurde: "Sie sagten uns, dass wir keine Angst vor Gewalt oder dem Tod haben dürften und testeten uns, um zu sehen, ob wir diesem Befehl auch Folge leisten konnten. Dreimal wurden Leute, die aus dem Lager zu fliehen versucht hatten, zurückgebracht. Jedes Mal holten die Banditen alle Kinder - auch mich - zusammen, damit wir der Bestrafung beiwohnten. Uns wurden Schläge angedroht für den Fall, dass wir laut aufschreien würden. Dann nahm ein Bandit seine Axt und hieb dem Mann mitten in den Schädel."

Mit derlei grausamen Methoden richtete die Renamo die Kinder darauf ab, die Autorität der Gruppe nicht anzuzweifeln. In einem weiteren Schritt brachte sie die Kinder dazu, selbst Gewalt auszuüben. In den Worten eines zwölf Jahre alten Jungen: "Die Banditen beauftragten andere Jungen in unserem Alter damit, uns zu überwachen. Diese waren zuvor ebenfalls in unserer Gruppe gewesen und geschlagen worden. Jetzt wurde ihnen die Verantwortung übertragen, und sie verhielten sich sogar noch schlimmer. Es machte ihnen Freude, uns zu verletzen. Wenn einer von uns bei irgendetwas erwischt wurde, zwangen ihn die Banditen, sich gegenüber von uns aufzustellen. Dann fragten sie uns, was der Junge Falsches getan hatte. Der erste von uns, der wahrheitsgemäß antwortete, wurde ebenfalls nach vorne geschickt. Nun wurde ihm ein Stock oder ein Bajonett ausgehändigt, um damit den anderen Jungen zu bestrafen. Den übrigen von uns wurde befohlen, beim nächsten Mal sofort zu antworten, sonst würden wir ebenfalls geschlagen werden."

Bild 2 Ein Rebellencamp an der birmanisch-thailändischen Grenze, 6. Dezember 1999: Der zwölfjährige Luther Htoo hält ein M16-Gewehr, während sein Zwillingsbruder Johnny (rechts) ihm zuschaut. Die Htoo-Zwillinge sind die spirituellen Führer der "Gottesarmee", einer Rebellengruppe ethnischer Karen in Myanmar, dem früheren Birma.

In manchen Regionen - zum Beispiel Kambodscha, Liberia, El Salvador - hat die groteske Initiationspraxis für Kindersoldaten die Tötung von Gefangenen oder sogar die Ermordung ihrer eigenen Familienangehörigen mit eingeschlossen. In Uganda sind junge Menschen zur Zeit der Anwerbung zum Militär genötigt worden, Gräueltaten in ihrem Heimatdorf zu begehen, damit ihnen kein leichter Fluchtweg aus der bewaffneten Gruppe mehr offen stand. Aus allen diesen Berichten geht hervor, dass diese Kinder zunächst nur widerwillige Teilnehmer der gewaltsamen Rekrutierungsmaßnahmen waren, ihre anfänglichen Empfindungen der Angst und der Schuld jedoch unter den wachsamen Augen der Aufseher umgeformt wurden. Oder wie es ein Führer der Roten Khmer formulierte: "Es braucht gewöhnlich einige Zeit, aber die jüngeren Mitglieder werden zu den nützlichsten Soldaten von allen."

Nach etwa zwei oder drei Monaten in den Lagern begann für die Renamo-Kinder das Kampftraining. In täglichen Drillübungen lernten sie zu marschieren, anzugreifen, sich zurückzuziehen und mit Waffen zu feuern. Ein elfjähriger Junge beschreibt rückblickend seine militärische Ausbildung: "Die meisten der Jungen waren noch klein und hatten bisher noch nicht mit einem Gewehr geschossen. Die Banditen lehrten uns, die Waffen auseinander zu nehmen und wieder zusammenzubauen. Sie stellten uns in Reihen auf und feuerten dicht an unseren Ohren Gewehre ab, damit wir später durch den Knall nicht erschreckt würden. Dann mussten wir die Gewehre selbst abfeuern und Kühe töten. Jungen, die dabei am erfolgreichsten waren, wurden zu Gruppenführern ernannt. Wenn andere Leute etwas Falsches taten, wiesen die Banditen jene neuen Anführer an, sie zu töten. Auf diese Weise wurden Jungen zu Renamo-Führern gemacht."


Veränderte Persönlichkeiten

Leichte und einfach zu handhabende automatische Waffen geben Kindersoldaten im Nahkampf die gleiche Kampfkraft wie einem Erwachsenen. Die Taktiken der Guerillakämpfer setzen ebenfalls auf die Beweglichkeit und die Fügsamkeit der Kinder. Grundsätzlich aber sind die Kindersoldaten ärmer dran: Sie erleiden viel höhere Verluste als ihre erwachsenen Mitstreiter, teilweise auch deswegen, weil ihre fehlende Lebensreife und Erfahrung sie dazu verleitet, unnötige Risiken einzugehen. Zudem führen Verletzungen im kindlichen Körper weit eher zu Komplikationen, und unter den rauen Bedingungen in Militärlagern - wie mangelhafte Ernährung, fehlende Hygiene und Gesundheitsvorsorge - werden Kinder eher krank als Erwachsene. Militärische Befehlshaber betrachten Kindersoldaten oft als billiges "Kanonenfutter", sodass sie eine schlechtere militärische Ausbildung erhalten und auch die gefährlichsten Aufgaben zu übernehmen haben, wie zum Beispiel das Absuchen von Minenfeldern oder das Ausspionieren feindlicher Lager.

Die Befürworter der Menschenrechte wissen nur wenig über das Schicksal von Kindern, die an massenhaften Gewalttaten beteiligt sind. Der gesunde Menschenverstand könnte einen moralischen Zusammenbruch nahe legen, jedoch scheint dies nicht immer der Fall zu sein. In Nordirland haben Wissenschaftler herausgefunden, dass die gesellschaftlichen und moralischen Vorstellungen von Kindern unverwüstlich sind; familiäre Bindungen und religiöse Werte bleiben auch angesichts von Gewalt bestehen. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten Studien in Südafrika. Zur Zeit des langen Kampfes gegen die Rassentrennung tricksten dort viele Kinder die Sicherheitskräfte aus und waren zuweilen unmittelbar in gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei oder Mitgliedern rivalisierender Bevölkerungsgruppen verwickelt. Eben diese Kinder aber hielten im Allgemeinen eine wesentliche Unterscheidung im Bezug auf Gewalt in begründeten beziehungsweise ungerechtfertigten Fällen aufrecht (obgleich Psychologen in den letzten Jahren in Südafrika eine vermehrte Neigung zu Gewalt sowie Bandenaktivitäten festgestellt haben). In einer Studie aus dem Jahre 1986 zur Frage der Bildung politischer Überzeugungen von Kindern behauptete Robert Coles, Psychiater an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), dass eine soziale Krise in einigen Kindern sogar eine frühreife moralische Entwicklung auslösen könne.

Im Falle der von uns in Mosambik beobachteten Kinder bestimmte jedoch die in einem der Basislager verbrachte Zeit deutlicher noch als das Ausmaß der persönlichen Verwicklung in Gewalt die nachfolgende moralische Entwicklung eines Kindes. Im Allgemeinen gilt, dass Kinder, die weniger als sechs Monate in einem Lager waren, nachher immer noch ihr fundamentales Vertrauen in traditionelle Werte haben. Sogar dann, wenn einige von ihnen selbst Gewalttätigkeiten begangen hatten, bestanden sie darauf, sich eher als Opfer denn als Mitglieder der Renamo-Bewegung zu definieren. Nach der Befreiung begannen die meisten dieser jungen Menschen anfangs ein aggressives Verhalten und Misstrauen gegenüber Erwachsenen an den Tag zu legen. Aber diese Handlungen und inneren Einstellungen verschwanden ziemlich rasch und die Genesungsbemühungen dieser Kinder waren stärker durch posttraumatische Belastungsstörungen, innere Unruhe sowie Gefühle der Reue und weniger durch antisoziales Verhalten geprägt.

Bild 3 Srinagar, Kaschmir, März 1991: Kleine Kinder, die der Rebellenbewegung in Kaschmir angegliedert sind, präsentieren AK-47-Sturmgewehre und einen Granatwerfer (links).

Auf der anderen Seite schienen Kinder, die sich ein Jahr oder länger in den Lagern der Renamo-Bewegung aufgehalten hatten, eine Art innere Grenze überschritten zu haben. Ihr eigenes Selbstbild hatte sich fest mit demjenigen ihrer Aufseher verwoben. Die Bedingungen waren derartig ungünstig und die ideologische Einflussnahme durch Mitglieder der Renamo so nachhaltig, dass diese jungen Menschen sich selbst als Mitglieder der Renamo-Gruppe betrachteten. Ein fünfzehn Jahre alter Junge brachte diesen Sachverhalt auf den Punkt: "Ich wurde noch einmal geboren in diesem Basislager. Selbst wenn ich hätte fliehen können, hätte ich nicht mehr nach Hause zurück gekonnt. Nicht nach dem, was ich gesehen und getan hatte." Aus dem Zusammenhang gerissen könnte eine solche Aussage gleichsam als Ausdruck von Reue verstanden werden, jedoch berichtete der junge Mann lediglich sachlich und nüchtern.

Die meisten dieser Kinder konnten überzeugend ausdrücken, dass die allgemeine Anwendung von Gewalt "falsch" sei, jedoch unterließen sie es keineswegs, Gewalt als ihr hauptsächliches Mittel zu gebrauchen, um soziale Kontrolle und Macht gegenüber anderen auszuüben. Ein Dreizehnjähriger erzählte uns, dass die Renamo-Bewegung sich nicht um das Wohlergehen von Personen kümmere; vielmehr benütze die Gruppe Menschen "wie Tiere", um ihre Zielvorstellungen durchzusetzen. Er berichtete weiter, dass er dächte, dies sei falsch. Am darauf folgenden Nachmittag jedoch mussten wir denselben Jungen davon abhalten, ein kleineres Kind, das sich geweigert hatte, für ihn Lebensmittel zu stehlen, brutal zusammenzuschlagen. Der besagte Junge kannte den Unterschied zwischen "richtig" und "falsch", aber ließ nicht davon ab, mit Gewalt und Einschüchterungen anderen Menschen seine Interessen aufzuzwingen. Psychologen haben einen ähnlichen Widerspruch zwischen Überzeugungen und Handlungen auch in weniger extremen Situationen festgestellt (siehe "Die Moralentwicklung von Kindern", Spektrum der Wissenschaft 10/99, S. 62).


Die Ersten im Krieg, die Letzten im Frieden

Können diese Kinder jemals wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden? Noch weiß dies niemand. Aber unsere Arbeit in Mosambik legt die Vermutung nahe, dass diese Kinder höchstwahrscheinlich von Gruppen und Ideologien angelockt werden, die ihre Wut, Angst und abscheulichen Zynismus belohnen, solange die Mitarbeiter von Hilfsprogrammen sie nicht erreichen. Denn Banden und Milizen werden ebenso gut gedeihen, wenn der Krieg offiziell beendet ist.

Es ist ein weitgehend modernes Phänomen, dass Staaten, ethnische oder gesellschaftliche Gruppen oder politische Führer Kinder für militärische Zwecke benützen (siehe Zusatztext). Damit sind auch die letzten Schranken bei der Wahl der Mittel im Krieg gefallen.

Die Diplomatie versucht dieser erschreckenden Entwicklung gegenzusteuern. Verschiedene internationale Verträge begrenzen oder verbieten die Teilnahme von Minderjährigen an bewaffneten Konflikten. Sowohl ein im Jahre 1977 erfolgter Zusatz zu den Genfer Konventionen als auch die Internationale Konvention über die Rechte des Kindes von 1989 setzen das Mindestalter für Kampfsoldaten auf fünfzehn Jahre fest. Alle Länder auf der Welt mit Ausnahme der USA und Somalia haben diese Konvention anerkannt. Die "Internationale Koalition gegen den Einsatz von Kindersoldaten", das Kinderhilfswerk Unicef und auch der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Kinder im Krieg, Olara Otunnu, haben sich intensiv für ein Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention mit einer weltweit geltenden Mindestgrenze von 18 Jahren für die Rekrutierung und den Einsatz von Soldaten eingesetzt. Nach langen Verhandlungen, in denen sich auch Staaten wie Großbritannien und die USA vehement gegen eine solche Festlegung wehrten, hat die UN-Vollversammlung das im Januar erarbeitete Zusatzprotokoll verabschiedet.

Bild 4 In Liberia und anderen afrikanischen Ländern haben Kinder einen großen Anteil an den bewaffneten Gruppen; in Kambodscha und anderen asiatischen Staaten sowie in Lateinamerika ist ihr Anteil geringer. Einige Industrienationen rekrutieren Sechzehnjährige, wollen jedoch das Mindestalter erhöhen.

Das wichtigste Ergebnis in dem Protokoll ist, dass Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nicht mehr als Soldaten in Kampfeinsätze geschickt werden dürfen. Die Einberufung von Jugendlichen unter 18 Jahren zum Militärdienst wird durch das Zusatzprotokoll grundsätzlich zwar verboten. Doch nach wie vor bleibt es den Regierungen erlaubt, schon 16-Jährige als Freiwillige in ihre Armeen aufzunehmen. Auch wird ein doppelter Standard gesetzt: Während das Zusatzprotokoll staatlichen Streitkräften diesen "freiwilligen Dienst" für Jugendliche erlaubt, wird er Rebellenbewegungen verboten.

Im Jahre 1998 wurde ein weiterer Fortschritt erzielt, als Diplomaten dem Internationalen Gerichtshof einen Gesetzentwurf vorlegten. Mit ihm soll der Einsatz von Kindersoldaten in den Katalog der Kriegsverbrechen aufgenommen werden. Der Entwurf erlangt Gesetzeskraft, wenn ihn zehn Länder ratifiziert haben, was für Mitte 2001 erwartet wird. Im Sinne der Internationalen Konvention über die Rechte des Kindes gelten dabei als Kindersoldaten all jene Kämpfer, die jünger als fünfzehn Jahre sind. Unsere Organisation "Save the Children" und auch andere setzen sich dafür ein, diese Altersgrenze auf 18 Jahre anzuheben.

Allerdings können die Rechtslage und die Wirklichkeit stark auseinander klaffen. Obwohl die "Afrikanische Charta für die Rechte und das Wohl des Kindes" das Mindestalter der Anwerbung zum Militärdienst auf 18 Jahre festsetzt, finden sich in Afrika mehr als die Hälfte der Länder, in denen Kindersoldaten kämpfen. Viele Staaten halten ihre eigenen Regeln nicht ein. In Burundi zum Beispiel sind bewaffnete Gruppen, die aus Zwölf- bis Fünfundzwanzigjährigen bestehen, mit Unterstützung der Regierung gebildet worden. Und Rebellengruppen oder irreguläre Streitkräfte agieren bekanntlich noch eher abseits gesetzlicher Regelungen.

Das Problem ist zudem durch die zwiespältige Haltung der internationalen Staatengemeinschaft noch verschärft worden. Im Balkan-Konflikt hat der Westen anfangs nur zögernd und teils unbeholfen auf die gewaltsamen ethnischen Vertreibungen reagiert, aber letztlich doch eine eindeutige Position bezogen. In Bosnien beispielsweise brandmarkte er die Rädelsführer der Vertreibungen als Kriegsverbrecher und erhielt völkerrechtliche Unterstützung für deren Festnahme. Doch für andere Länder - wie etwa Sierra Leone - wurden keine derartigen Anstrengungen unternommen.

Das Verhalten von Staaten gegenüber ihren jüngsten Bürgern ist bislang kein Thema diplomatischer Gesprächsrunden oder von Entwicklungs- und Handelsvereinbarungen. Auch bei der Entscheidung, ob ein Staat in internationale Organisationen aufgenommen wird, spielt es keine Rolle. Staatsoberhäupter, die Kindersoldaten ausbeuten, wie beispielsweise Charles Taylor in Liberia und Laurent Kabila in der Demokratischen Republik Kongo, sind als Gleiche unter Gleichen von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert.

Diejenigen von uns, die mit diesen Kindern arbeiten, werden künftig verstärkt untersuchen, welche Rolle Hilfsorganisationen bei der Wiederherstellung bürgerlicher Gesellschaften übernehmen können. Humanitäre Programme, in geeigneter Weise organisiert, können die Rechte von Kindern und andere menschliche Grundwerte fördern. Letztlich wird sich die wirtschaftliche Entwicklung als entscheidend erweisen. Es ist kein Zufall, dass die gewaltsam erzwungene Rekrutierung von Kindern am häufigsten in Gesellschaften zu verzeichnen ist, in denen der Lebensstandard stagniert oder plötzlich abgesunken ist. Und obwohl die Beseitigung der weltweiten Armut als naives und unerreichbares Ziel erscheinen mag, sind wir doch nicht völlig pessimistisch.

Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Kinder immer stärker unter Kriegen und Gewalt leiden. In einem umfassenden Bericht, den die frühere mosambikanische Bildungsministerin Graça Machel im Auftrag der Vereinten Nationen erstellte und 1996 vorlegte, zog sie eine grausame Bilanz: "Immer größere Teile der Welt fallen in ein moralisches Vakuum. Dort werden die grundlegenden menschlichen Werte nicht mehr beachtet. Kinder werden massakriert, vergewaltigt, zu Krüppeln gemacht. Sie werden als Soldaten ausgebeutet und unvorstellbarer Gewalt ausgesetzt. Man lässt sie verhungern. Tiefer kann die Menschheit nicht sinken." Vier Jahre später musste sie feststellen: "Es quält mich festzustellen, dass sich die Situation seither noch verschlimmert hat. Die Konflikte breiten sich immer weiter aus. Und es ist Routine geworden, Kinder in diesen Konflikten zu Zielen zu machen."


Literaturhinweise


Links


Neil G. Boothby leitet die Abteilung Children in Crisis bei der Hilfsorganisation Save the Children in der US-Bundeshauptstadt Washington. Zuvor koordinierte er in verschiedenen Behörden - unter anderem für den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) - Hilfsprogramme für Flüchtlingskinder und war von 1986 bis 1996 Professor an der Duke- Universität.

Christine M. Knudsen ist Projektleiterin in Boothbys Abteilung. Von 1997 bis 1999 leitete sie das UNHCR-Notprogramm für Tschetschenien. Sie hat in Burundi ein Aussöhnungsprogramm initiiert und in verschiedenen anderen Ländern über Wiederaufbauprojekte geforscht.


Quelle: Spektrum der Wissenschaft - Oktober 2000

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