Die Revolution der Barfüßigen

Sie kümmern sich um Straßenkinder in Bombay und helfen Genossenschaften von Indio-Bauern in Peru. Sie sorgen für sauberes Trinkwasser in den Favelas von Rio de Janeiro und bauen Straßen zu entlegenen Dörfern. Sie gründen Banken für Kleinbauern und organisieren die Müllabfuhr in den Slums. Was sie verbindet, sind drei Buchstaben und eine Idee. Die Rede ist von den "NGO", den Non Governmental Organisations.

Von Holger Baum

Non Governmental Organisations - das sagt zunächst nur, was sie nicht sind: Nicht Regierung, nicht Obrigkeit, nicht staatlich. Sie sind "privat", aber keine kommerziellen Unternehmer. Zwischen Staat und Markt sehen sie sich als "dritte Kraft". Einer ihrer geistigen Väter ist der Inder B. R. Sen, in den 60er Jahren Generaldirektor der Welternährungsorganisation FAO. Während sich damals die offizielle, die staatliche Entwicklungshilfe anschickte, nach dem Modell des erfolgreichen Marshallplans für Europa westliche Industrialisierungsmodelle in die jungen Staaten der "Dritten Welt zu transferieren, setzte Sen lieber auf die Selbsthilfekräfte der dortigen Bevölkerung. Sein Rezept war einfach und im indischen Unabhängigkeitskampf millionenfach erprobt: Wenn man wirklich etwas erreichen will, muß man die Bevölkerungsmassen mobilisieren und sie vom Sinn eines Zieles überzeugen, indem man den Nutzen für jeden einzelnen deutlich macht.

Nicht Almosen also, sondern Mobilisierung der eigenen Kräfte heißt die Philosophie der NGO. Sie sind der Versuch, mit Entwicklung bei den Grundbedürfnissen der Mittellosen zu beginnen. Über 250 Millionen Menschen in den Entwicklungsländern, rund ein Fünftel der 1,3 Milliarden, die in absoluter Armut leben, sind nach Schätzungen des UN-Entwicklungsprogramms in mehreren hunderttausend Selbsthilfegruppen, Genossenschaften, Frauengruppen, Kleinbauernorganisationen oder Nachbarschaftsvereinigungen organisiert oder werden von ihnen erreicht. Diese "neue Internationale" müht sich, wenigstens bescheidene soziale Fortschritte für die zu erreichen, denen es an politischem Einfluß und Kaufkraft fehlt.

Bild 1 Nichtregierungsorganisationen wollen an der Basis Hilfe zur Selbsthilfe organisieren und fördern. Eine der Grundvoraussetzungen für die Menschen, nicht in Armut und Hunger existieren zu müssen, ist die Chance, lesen, schreiben und rechnen zu lernen wie diese Schulkinder in Accra, Ghana.

Obgleich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte in den meisten Entwicklungsländern enorme wirtschaftliche und soziale Verbesserungen eingetreten sind, haben große Bevölkerungsteile davon bislang nicht profitiert. Rund 20 Prozent der Weltbevölkerung leben nach Angaben der Weltbank unterhalb des Existenzminimums. Gewaltige soziale Unterschiede prägen noch immer die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Staaten des Südens. So haben von den annähernd 900 Millionen Einwohnern Indiens schätzungsweise 300 Millionen einen durchaus akzeptablen Lebensstandard erreicht. Neben der finanzkräftigen Oberschicht und einer modernen Industriearbeiterschaft entstand ein kaufkräftiger Mittelstand, der sich die Segnungen einer hochtechnisierten Industriegesellschaft leisten kann. Daneben aber leben zwei Drittel der indischen Bevölkerung in den Slums der Riesenstädte und in den unzähligen kleinen Dörfern von der Hand in den Mund.

Wer nicht weiß, wovon er am nächsten Tag satt werden soll, wer nie einen Beruf erlernt hat, wer nicht lesen und schreiben kann, hat als einzelner nur selten eine Chance, seine Lage zu verbessern. Sein ganzes Streben ist von den Mühen bestimmt, gerade das Notwendigste zum Überleben zu ergattern - durch Tagelöhnerarbeit oder Botendienste, als Handlanger, Saisonarbeiter, Haushaltshilfe, Straßenverkäufer, Schuhputzer oder notgedrungen durch kleine Diebstähle und Prostitution. Einfluß auf das politische Geschehen zu suchen, ist den meisten fremd. Die einzige Macht der Armen ist ihre große Zahl, die allenfalls dann in die Waagschale fällt, wenn die wirklich Mächtigen sie für ihre Zwecke zu nutzen gedenken. Nach Wahlen, wenn es denn welche gibt, sind die Habenichtse von den Regierenden bald wieder vergessen. Die politische Wirklichkeit in der "Dritten Welt ist reich an gebrochenen Versprechen.

Bild 2 Auch für Erwachsene ist es lebenswichtig, die Schulbank zu drücken. Berufsausbildung gehört zum Konzept. Die Auszubildenden in einer Schreinerei in Äthiopien etwa bekommen Kenntnisse auf den Weg, um als Handwerker ihren Unterhalt sichern zu können.

Das Erstarken der NGO ist die Antwort auf das Versagen oder den Unwillen der politisch Verantwortlichen, die sozialen Probleme zu lösen und die oft extrem ungerechten Verteilungsverhältnisse zu reformieren. Statt auf "die da oben" zu hoffen, organisieren "die da unten" nun selbst ökonomische Verbesserungen und sozialen Fortschritt. Dabei erweisen sie sich als höchst einfallsreich, wie einige Beispiele aus Zaire zeigen. Das Land ist von der "Kleptokratie" des Militärdiktators Mobuto gezeichnet. Der Staat existiert allenfalls noch in Gestalt einer übermächtigen Bürokratie und einer despotischen Soldateska. Bis hinunter in die Dörfer ist der Zerfall zu sehen. So sind die ehemals intakten Straßen in einem unbefahrbaren Zustand und die Erntetransporte zu den städtischen Märkten damit unmöglich geworden. In einigen Regionen haben die Bauern zur Selbsthilfe gegriffen und reparieren die Verbindungswege nun selbst. Zur Finanzierung erheben sie eine Mautgebühr. Der Staat ist nicht mehr in der Lage, in den städtischen Wohnvierteln den Müll zu beseitigen - Einwohnergruppen bieten sich an, dies gegen Bezahlung zu erledigen und verwerten dann sogar noch einen Teil des Abfalls. Die Zahl der Einbrüche nimmt zu - lokale NGO organisieren kommunale Sicherheit, gegen Bezahlung. "Die Überwindung des Chaos durch Basisarbeit" nennt die Entwicklungsexpertin Salua Nour solche Beispiele und sieht darin die einzige Hoffnung, das Gemeinwesen von unten wieder aufzubauen.

Eine Hoffnung auch für Somalia, Mosambik, Liberia ...? Schließlich kann ein Staat nur existieren, wenn sich seine Bürger für das Gemeinwohl verantwortlich fühlen. Darin liegt wohl auch die überragende gesellschaftspolitische Bedeutung der NGO. In ihnen organisieren sich Menschen, die gemeinsam etwas erreichen wollen und die ihre Ziele nur verwirklichen können, wenn sie sich als Gemeinschaft verstehen und zum Wohle aller Beteiligten kooperieren. Gibt es eine bessere Antwort der Bürger auf das Unvermögen von Politikern und Regierungen? Wo der Staat keine Leistungen mehr erbringt oder nur noch als Unterdrückungsmacht auftritt, wird er überflüssig. So gesehen hat sich in vielen Dritte-Welt-Staaten schon längst eine ganz eigene Form von Entstaatlichung und Deregulierung durchgesetzt - zumindest auf den unteren sozialen Ebenen.

Bild 3 Eine kleine Werkstatt in Guatemala, die sich mit Metallverarbeitung über Wasser hält. Die Förderung von privatem Unternehmergeist ist eine der wichtigsten Aktivitäten der NGO.

Was diese "Revolution der Barfüßigen" so erfolgreich macht, sind im wesentlichen drei Faktoren: die Motivation der Armen, ihr Schicksal aus eigener Kraft zu wenden, die Erfahrung, daß ihnen dies auch gelingen kann, und die Unterstützung, die sie dabei von außen erhalten. Eines der wohl erfolgreichsten Entwicklungsprojekte, die Grameen Bank in Bangladesh, ist aus einer kleinen NGO erwachsen, die der Wirtschaftswissenschaftler Mohammed Yunus vor gut 20 Jahren ins Leben rief. Bei seinen Besuchen in den Dörfern und Slums seines Landes hatte er gesehen, mit welch enormem Aufwand an Zeit und Kraft die Menschen ihren bescheidenen Lebensunterhalt erarbeiten müssen. Seine Erkenntnis: Nicht mangelnde Arbeit oder fehlender Leistungswille sind Ursachen der Armut. Oft fehlen so einfache Dinge wie ein paar Werkzeuge, Rohmaterial, Saatgut, eine Kuh oder ein Stück Land. Sein Konzept landete: Nicht Almosen helfen weiter, sondern Beratung, Ausbildung - und etwas Geld in Form von Krediten. Allerdings war keine der Banken im Land bereit, einer landlosen Bauernfamilie, die keine Sicherheiten zu bieten hatte, auch nur einen Pfennig zu leihen.

Also müssen die Armen selbst eine Bank gründen, war Yunus' Idee. Aber wer einen Kredit haben will, muß zunächst einmal sparen. Das scheinbar Widersprüchliche gelang: Die Ärmsten der Armen legten winzige Beträge zur Seite, die sie sich buchstäblich vom Munde abgespart hatten. Aus den Einlagen konnten bald die ersten Kleinstkredite vergeben werden - allerdings nur an Gruppen von mindestens vier oder fünf Personen, die gemeinsam auch für die Rückzahlung bürgten. Im ganzen Land entstand auf diese Weise ein Netz von Spar- und Kreditgemeinschaften. Daraus erwuchsen Zehntausende von Kleinunternehmen, aufgebaut von einer Bevölkerungsgruppe, der zuvor niemand unternehmerische Kompetenz zugebilligt hätte. Als besonders erfolgreiche Kleinunternehmer haben sich Frauen erwiesen. Sie stellen auch die Mehrheit der Bank-Mitglieder. Dank der gegenseitigen sozialen Kontrolle liegt die Rückzahlungsquote von Krediten bei der Bank der Armen mit 95 Prozent weit über den Ergebnissen im herkömmlichen Bankensystem von Bangladesh. Das hat auch andere Geldgeber, Entwicklungsagenturen aus den Industrieländern, überzeugt. Das Modell der Grameen Bank, ein neuer Typus unserer Volks- und Raiffeisenbanken, gilt als so vielversprechend, daß es unterdessen in über 30 Entwicklungsländern Nachahmer gefunden hat.

Bild 4 Ein Ein-Mann-Betrieb in Vietnam, der Dienstleistungen wie Fahrradreparaturen anbietet. Meist fehlt es nur an etwas Grundkapital, Werkzeug oder Material, um es zu schaffen.

Ohne finanzielle Hilfe von außen kommen die meisten NGO der Dritten Welt nicht aus. Das meiste Geld, das sie für ihre Arbeit benötigen, fließt aus den Industrieländern. Auch dort sind NGO aktiv: Zu den bekanntesten in Deutschland gehören das Kinderhilfswerk Terre des Hommes, Karlheinz Böhms Organisation "Menschen für Menschen", die Deutsche Welthungerhilfe oder die kirchlichen Werke Brot für die Welt und Misereor. Rund 1,4 Milliarden DM an Spenden mobilisieren diese Organisationen jedes Jahr. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gibt nochmal einen Zuschuß von rund 780 Millionen DM hinzu - 10 Prozent des staatlichen Entwicklungshilfeetats.

Ähnlich wie in Deutschland agieren in fast allen Industriestaaten private Organisationen und Hilfswerke. Sie verstehen ihre Leistung als Hilfe zur Selbsthilfe. Die mehr als 3000 "Nord-NGO" überweisen nach Schätzungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jährlich zwischen neun und zehn Milliarden US-Dollar an ihre Partner-NGO im Süden. Wenn diese es wünschen, kommen für eine begrenzte Zeit auch Entwicklungshelfer und Experten, die mit Rat und Tat zur Seite stehen oder einheimische Entwicklungsfachleute ausbilden. Allerdings ist dies eher die Ausnahme, denn ausländische Experten, der lokalen Sprachen meist nicht mächtig und nicht immer mit den Regeln von Dorfgemeinschaften vertraut, brauchen Zeit, sich erst einmal selbst mit den Bedingungen am Ort bekannt zu machen. Andererseits wird von dem weißen Experten angenommen, er könne ohnehin alles besser. Das mindert das Vertrauen in die eigenen Kräfte und Erfahrungen, und allzu schnell schleift sich die Gewohnheit ein, den Experten machen zu lassen und sich selbst in die Zuschauerrolle zu begeben.

Bild 5 Der Aufbau einer Infrastruktur ist Bedingung für wirtschaftliche Entwicklung. Wo es Brunnen gibt, müssen Frauen keine langen Wege mehr zurücklegen, um ihr Dorf mit Wasser zu versorgen.

Als Peter Kowoll als Berater für eine NGO in die Dominikanische Republik ging, war er sich dieser Gefahr bewußt. Im Auftrag der Deutschen Welthungerhilfe unterstützte der Betriebswirt eine dominikanischen Partner-NGO beim Aufbau eines Kreditfonds für Kleinhandwerker und kleine Gewerbetreibende. Sein Rezept: Viel fragen, statt schnell antworten, und genau hinhören, wo die Leute der Schuh drückt. Da war ein junger Mann mit einer kleinen Elektrowerkstatt in einem Hinterhof in der Hauptstadt Santo Domingo. Mit seinem Dienstleistungsangebot, der Reparatur von Kühlschränken, Radios und Fernsehgeräten, hatte er einen guten Riecher gehabt. Aufträge gab es genug, aber mit den Einnahmen konnte der Mann seine Familie kaum über die Runden bringen. Richtig gelernt hatte er das Handwerk nicht, gleichwohl erwies er sich als außerordentlich pfiffig und einfallsreich, wenn es darum ging, dem defekten Fernseher wieder Bilder zu entlocken oder den Kühlschrank auf die gewünschte Temperatur zu bringen. Was ihm fehlte, waren geeignetes Werkzeug, um effizienter arbeiten zu können, und das Wissen über Preis- und Kostenkalkulation.

Ähnliche Probleme hatten auch andere Kleinstunternehmer, fand Kowoll heraus. Ein Kredit von ein paar hundert Pesos hätte zwar gereicht, um Werkzeuge und Geräte zu beschaffen, aber die grundsätzlichen Schwierigkeiten wären damit noch nicht behoben gewesen. Mit den Mitarbeitern der dominikanischen NGO entwickelte Kowoll deshalb ein Ausbildungsprogramm. Wer einen Kredit haben wollte, mußte zunächst in Abendkursen Buchführung und Kalkulation pauken oder sich in handwerklichen Fertigkeiten von einem einheimischen Fachmann unterweisen lassen. Ein schweres Brot für die Handwerker, von denen kaum einer über einen Schulabschluß verfügte. Das Projekt erwies sich am Ende als recht erfolgreich. Die meisten der Kleinstunternehmer, die sich daran beteiligten, schreiben heute schwarze Zahlen und können ihre Kredite pünktlich zurückzahlen. Die örtlichen Banken waren übrigens zu Anfang nur deshalb bereit, die Hinterhofbetriebe als Kunden zu akzeptieren, weil die deutsche Organisation einen Garantiefonds hinterlegt hatte. Der kann heute für neue Aufgaben eingesetzt werden.

Bild 6 Landvermessung und Straßenbau werden den Warentransport ermöglichen, um regionale und vielleicht internationale Märkte zu erreichen.

Mit ihrer großen Bedeutung im Entwicklungsprozeß, ihrer vielfach erfolgreichen Arbeit und ihrer engen Verbindung zur Bevölkerung treffen die NGO keineswegs nur auf ungeteilte Zustimmung und nicht überall auf offene Arme. Je nach Lage der Dinge sehen sich die Organisationen entweder den Versuchen ausgesetzt, für politische Zwecke mißbraucht zu werden, oder sie müssen mit offener Unterdrückung rechnen. Schon manche NGO hat ihre Unschuld verloren, weil sie etwa dem Druck eines einflußreichen Politikers nachgegeben hat, in dessen Wahlkreis ein "Dorfentwicklungsprogramm" zu starten, das vornehmlich seinen Parteigängern zugute kam. In Haiti machten die Militärherrscher der letzten Jahre unerbittlich Jagd auf Mitglieder und Führer kleiner, lokaler NGO, weil sie dort den größten und bestorganisierten Widerstand erwarteten. In Diktaturen erweisen sich tatsächlich Bauerngenossenschaften und Nachbarschaftskomitees, die Selbsthilfegruppen in Dörfern und Slums sehr oft als Keimzelle von demokratischen Entwicklungen. Man kennt einander, weiß, wem zu vertrauen ist, hat die gleichen sozialen Interessen, und zur gedeihlichen Zusammenarbeit sind offene Diskussionen und Selbstverwaltung unerläßlich., In den Armenvierteln der haitianischen Hauptstadt Porte au Prince wuchs so trotz eines ausgeklügelten Spitzelsystems und trotz des nächtlichen Wütens der Todesschwadron eine demokratische Bewegung, die den Armenpriester Jean-Bertrand Aristide zum ersten frei gewählten Präsidenten des Landes machte.


Holger Baum ist Fachjournalist für entwicklungspolitische Themen in Bonn und Vorsitzender der Nord-Süd-Initiative Germanwatch e.V.


Quelle: Spektrum der Wissenschaft - Dossier: Dritte Welt - Januar 1996

Spektrum der Wissenschaft

1999 Servir e.V. Home e-Mail zurück Info