Pressespiegel

Ohne Dach und ohne Land - Ein Volk kämpft für seinen Lebensraum

Besuch bei Johannes Niggemeier in den Armenvierteln in Brasilien

Von Werner Liesmann

Altenhundem/Nova Iguaçu. (WP) Von ihrem Aufenthalt in Brasilien berichtet die Schülergruppe des Gymnasiums Maria Königin rund um ihren Lehrer Werner Liesmann exklusiv in der WESTFALENPOST:

An einem der letzten Tage in Rio besuchten wir Johannes Niggemeier, der schon mehrfach am städtischen Gymnasium in Lennestadt über die Projekte berichtet hat, die er dort betreut. Er unterrichtet seit mehreren Jahren jeweils ein halbes Jahr Theologie an der Universität Paderborn, die andere Hälfte des Jahres verbringt er in Brasilien, um dort zu erfahren und zu leben, was Theologie der Befreiung bedeutet.

Die Favela, in die er uns führte, unterschied sich eigentlich in nichts von den Favelen, die wir vorher gesehen hatten. Erst ihr Name, "Zumbi dos Palmares", in großen Lettern am Gemeindezentrum angebracht, ließ ahnen, dass hier etwas anders sein mußte. Zumbi dos Palmares war ein großer Widerstandskämpfer im 17. Jahrhundert. Er sammelte geflohene Sklaven in unzugänglichen Wehrdörfern am Rande des Urwaldes, und hoffte, das Land von der Sklaverei zu befreien zu können. Letztlich wurde er aber doch von den Portugiesen niedergemetzelt.

Bild1 Unvorstellbare Armut herrscht in den Favelas, den Armenvierteln in Brasilien. Doch von Resignation keine Spur. Mit Hilfe der Kirche und engagierter Leute wie Johannes Niggemeier kämpfen die Menschen um einen festen Platz zum Leben.

Neuanfang

"Vor 12 Jahren war hier noch nichts als Gras und Buschland", berichtet Niggemeier. "Das Land gehörte einem Schrotthändler, der seine Hände u.a. tief im Drogengeschäft hatte. Ein undurchsichtiges Gelände, berüchtigt dafür, dass nachts Mädchen und junge Frauen dorthin verschleppt wurden, um sie zu vergewaltigen." Nach einer Hochwasser Katastrophe besetzten ca. 350 mittellose Familien die etwa 50.000 m2 große unbenutzt liegende Fläche, um dort einen Neuanfang zu wagen. Schnell waren einfache Hütten aus Stöcken, Brettern und schwarzen Baufolien gebaut, das wenige Hab und Gut dort untergebracht. Doch der Eigentümer wehrte sich. Mit Schlägertrupps wurde die Gemeinschaft immer wieder aus den Hütten heraus geknüppelt.

Kirchliche Hilfe

Es dauerte 1 1/2 Jahre bis mit tatkräftiger ideeller und finanzieller Unterstützung der Kirche das Gelände per Gerichtsbeschluß der Gemeinschaft zugesprochen wurde. Bis dahin forderte der Kampf einige Opfer, einige wurden durch die Killerkommandos getötet, andere, insbesondere ältere Menschen und Kinder starben an Lungenentzündung.

Die kirchliche Unterstützung brach auch später nicht ab, insbesondere die von Johannes Niggemeier gegründete "AVICRES" begleitete die zunächst noch wenig strukturierte Gruppe hin auf ihrem Weg zu einer funktionierenden Gemeinschaft mit Bürgermeister, Verwaltung und sozialen Einrichtungen. Unter ihrer Mithilfe entstanden ein Gemeindezentrum, zwei Kindertagesstätten und ein Gesundheitszentrum.

Mit ein wenig Stolz führte uns Wanda, eine Frau der ersten Stunde und jetzige Vorsitzende der Gemeinschaft in einige dieser Einrichtungen. Es war gerade früher Nachmittag, als wir die Kindertagesstätte betraten. Es war auffällig still. Aber das verstanden wir sofort, als wir erfuhren, dass Ferienzeit war. Ein anderer Grund offenbarte sich uns beim Blick in den Schlafsaal. Dort lagen nebeneinander friedlich ruhend etwa 20 Kinder. Während die Kinder schliefen, bereitete die Köchin zusammen mit einer Hilfskraft auf einem einfachen Gasherd gerade die nächste Malzeit vor.

Besonders beeindruckt waren wir von der Gesundheitsstation. Wir durften der Ärztin über die Schulter schauen. Sie nahm sich für jeden einzelnen Patienten viel Zeit. Täglich werden etwa 30 Patienten behandelt. Umgerechnet etwa 3,50 DM kostet pauschal die Behandlung - in der Stadt mindestens das zehnfache. Eine Behandlung durch eine der beiden Krankenschwestern wird in Naturalien ausgeglichen, etwa einen Beutel Reis, oder ein Stück Seife oder sonst etwas. Mehr, und das sehen die Verantwortlichen realistisch, können sich die Bewohner der Favela auch nicht leisten.

Unterstützung

Das benötigte Geld für den Erhalt und Ausbau der Gemeinschaftsgebäude sowie die Bezahlung der Angestellten kommt aus Spenden, z.B. vom städtischen Gymnasium in Lennestadt. Doch nicht nur die Spendengelder sind ein Problem, erklärt uns Niggemeier, es ist auch schwierig für 300 DM bis 1.500 DM Monatslohn hoch qualifizierte Menschen zu finden die sich voll einbringen.

Bild2 Auch in Nova Iguaçu hatten die Gäste aus Lennestadt schnell Kontakt zu den Einheimischen.

Eigener Stadtteil

Wir waren erstaunt, wie sehr sich diese Gemeinschaft innerhalb dieser nur 12 Jahre entwickelt hat. Das ganze Gelände ist inzwischen voll zugebaut, fast alle Häuser sind aus Stein, nur noch wenige Holzhütten. Dabei achtet die AVICRES darauf, dass jeder Bewohner für sein eigenes Schicksal verantwortlich ist. Wer ein Haus besitzt, hat es aus eigener Kraft geschafft, individuelle Unterstützung in Form von Spendengelder gibt es nicht. Nur für die Gemeinschaftseinrichtungen wird Geld zur Verfügung gestellt. Vor zwei Jahren wurde "Zumbi dos Palmares" offiziell als eigenständiger Stadtteil anerkannt. Wanda, die tatkräftige Bürgermeisterin wurde dieses Jahr in der 2 Millionen Stadt Nova Iguaçu, zu der die Favela gehört, zur Frau des Jahres ernannt.

Novos Canudos

Die Sonne ließ uns nur noch wenig Zeit für "Novos Canudos", eine Favela im Entstehen. Ca. 90 Familien haben hier auf einer Länge von etwa 300 m ihre einfachen Hütten aus Baufolie am Rande einer viel befahrenen Strasse aufgestellt. Sie kämpfen seit April stellvertretend für weitere 250 Familien für das dahinter liegende ungenutzte Land. Die roten Fahnen mit den goldenen Buchstaben MSTT die kunstvoll ineinander verschachtelt sind, geben Hinweis darauf, dass sie von den beiden großen kirchlichen Bewegungen, dem "Movimento sem Teto" und dem "Movimento sem Terra" , der "Bewegung ohne Dach" und der "Bewegung ohne Land" unterstützt werden. Ohne die Hilfe durch diese Organisationen hätten sie nichts zu essen, könnten sie eine gerichtliche Klärung ihres Anliegens nicht finanzieren, ohne diese Organisationen wäre ihr Kampf aussichtslos.

Schnell begreifen wir beim Betreten der schmalen Zeltsiedlung wie arm diese Menschen sind. Es ist uns kaum vorstellbar, wie die Menschen hier unter diesen Bedingungen Monate, vielleicht Jahre leben müssen. Wie erniedrigend muß es sein, im Ballungsraum einer Großstadt mit Hochhäusern, Hotels, Supermärkten und berühmten Badestränden außer Kindern kaum mehr sein Eigen zu nennen als 10 oder 20 fachwerkartig verknüpfte Äste, über die lückenhaft eine Baufolie gezogen ist. Doch die Bewohner geben sich entgegen unseren Erwartungen überaus kämpferisch, von Resignation keine Spur. Gerne zeigen sie uns ihr Elend, führen uns in ihre Hütten, denn sie wissen, dass sie sich nicht schämen müssen in einem Land in dem die meisten Menschen in völliger Armut oder wie sie im Elend leben. Ein wenig hoffen sie, dass wir mit unserem Video-Material Öffentlichkeit schaffen, denn Öffentlichkeit, das Bekanntmachen dieser unsäglichen Zustände, ist vermutlich das einzige Mittel, das die verantwortlichen Behörden aus ihrer Gleichgültigkeit holt. "Zumbi dos Palmares" gibt ihnen Hoffnung, es hat dort genau so angefangen.

Quelle: Westfalenpost - 22. August 2000

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