Der zweifache Tod des Propheten

Der verketzerte Heilige der Armen vermachte den Christen die Option für die Befreiung der Armen.

Von Harald Pawlowski

Dom Hélder Câmara Dom Hélder Câmara

Wenn ein Leuchtfeuer erlischt, das den Schiffen auf dem Meer den Kurs signalisiert, dann lauert die Havarie an schroffen Felsen oder auf tückischen Sandbänken. Erzbischof Hélder Câmara war ein Leuchtfeuer für alle Menschen, die guten Willens sind. Sein Leben, erfüllt vom Geist des Jesus von Nazaret, galt der Befreiung der von Unterdrückung, Ausbeutung, Unrecht und Gewalt Gebeutelten. Nach langem Leiden ist er im Alter von 90 Jahren gestorben. Es war dies sein zweiter Tod. Wurde er doch nach seinem 75. Lebensjahr von einem erzkonservativen Bischof abgelöst, der offensichtlich gerne einen Befehl des Vatikans ausführte: das Leuchtfeuer, Hélder Câmaras Lebenswerk, umgehend auszulöschen.

»Mein Sozialismus heißt Gerechtigkeit«, lautet einer der Aussprüche Hélder Câmaras. Dahinter stand die Vision eines lateinamerikanischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz und einer Kirche der Zukunft, die sich als eine fundamental-spirituelle Sozialbewegung versteht. Sein Widerstand gegen den Staatsterrorismus war unnachgiebig und hart, zum Entsetzen der kirchlichen Konservativen. Seine Antwort 1972: »Wenn die Kirche nicht den Mut hat, ihre eigenen Strukturen zu reformieren und ihren Lebensstil zu verändern, wird sie niemals die moralische Kraft haben, die Strukturen der Gesellschaft zu kritisieren.« Seine Aufgabe sah er im Aufdecken des Patriarchalismus und des modernen Kolonialismus. Zentralistische Lösungen wie auch Gewaltanwendung waren ihm ein Greuel. Auf seinen vielen Auslandsreisen prangerte er die Foltermethoden an, die in Brasiliens Militärgefängnissen an der Tagesordnung waren. Er wurde als »Agent Moskaus« bezichtigt, der den Kommunismus propagiere. Die Herrschenden bekämpften ihn durch Schikanen, Überwachung, Rufmord und anonyme Todesdrohungen. Weil sie sich nicht an dem international angesehenen Erzbischof vergreifen wollten, folterten und ermordeten sie dafür Priester und Laien. 13 Jahre lang verbot die Militärdiktatur es Brasiliens Medien, Câmara zu Wort kommen zu lassen oder über ihn zu publizieren.

Der Erzbischof wohnte in einem kleinen Haus; sein Bischofspalais machte er zum offenen Haus für Obdachlose und zum Zentrum der Menschenrechtsarbeit. Er verteilte die Ländereien seiner Erzdiözese an landlose Bauern, die von den Großgrundbesitzern vertrieben worden waren. Unter seinem Einfluß entwickelte sich die Brasilianische Bischofskonferenz zu einem geistig-politischen Machtzentrum. Sein Einfluß reichte bis nach Rom, bis hinein in das Konzil unter den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. Beide Päpste bekräftigten den neuen Weg der Kirche zu den Armen und Unterdrückten.

Câmaras Lebensweg hatte einst eine dramatische Wende genommen. In seinem Bekenntnis-Buch (Peter Hammer-Verlag) erläuterte er seine Bekehrung: In den 30er Jahren, nach seiner Priesterweihe 1931, hatte er als brasilianischer Faschist das Grünhemd getragen. Nach dieser »Zeit der Verirrung« (Câmara) wandelte er sich zum radikalen Verfechter der individuellen und sozialen Menschenrechte. Entscheidenden Anstoß dafür bekam er bei einem Frankreich-Besuch. Der Erzbischof von Lyon führte ihn in die Spiritualität und Aktivität der Arbeiterpriester und der Christlichen Arbeiterjugend ein. Davon beeindruckt organisierte er 1955 als Generalsekretär den Eucharistischen Weltkongreß in Rio de Janeiro und verkündete dort die »doppelte« Gegenwart Jesu: in der Eucharistie und unter den Armen. Die Scheinwerfer, zur Nacht auf die Christus-Statue auf dem Zuckerhut gerichtet, wurden alternativ auf die armseligen Favelas auf den Steilhängen über Rio gelenkt. Und die gesammelten Spendengelder dienten dazu, 10 000 Bewohnern der Elendsquartiere Wohnungen zu bauen. Später, als Erzbischof im Nordosten Brasiliens, organisierte er international Spendengelder für die Selbstorganisation der Slumbewohner und der landwirtschaftlichen Kooperativen der Landlosen und unterstützte deren politische Forderungen.

Durch seine von »rechts« vielkritisierten Reisen gelang es ihm, die Jugend Westeuropas und Nordamerikas für die Probleme Lateinamerikas zu sensibilisieren. Der Jugend in vielen Ländern der Dritten Welt gab er den Anstoß, nach gewaltlosen, nach »christlichen« Wegen zu suchen.

Publik-Forum war damals, Anfang der 70er Jahre, ein Teil der von ihm ausgelösten Bewegung. Câmara wurde von der damals noch ganz jungen Zeitung nach Frankfurt eingeladen und fand eine begeisterte Zuhörerschaft. Publik-Forum rief zu einem Câmara-Fonds auf. Über eine eine Million Mark wurden in Norwegen, Holland, Belgien und Deutschland für einen Volks-Nobel- Preis für Dom Hélder gesammelt; die entsprechende Publik-Forum-Aktion allein erbrachte mehr als ein Drittel der Gesamtsumme, die der Erzbischof seiner »Operation Hoffnung« zur Verfügung stellte, eine Genossenschaft von Landarbeiter-Familien.

Câmara hüllte sich nach seinem Amtsverlust in beharrliches Schweigen, wenn die Sprache auf seinen Nachfolger als Erzbischof von Olinda und Recife, Jose Cardoso Sobrinho, kam. Dieser hat so gut wie die gesamte Diözese gegen sich aufgebracht, weil er die vielen Initiativen für soziale Gerechtigkeit, die Câmara ins Leben gerufen hatte, auflöste. Die meisten der Mitarbeiter Câmaras wurden von Sobrinho ihrer Aufgaben enthoben oder warfen schließlich verzweifelt das Handtuch.

Das Lebenswerk Câmaras wurde zerstört. Hintergrund dieser Machenschaften gegen den tief frommen Propheten ist die Politik des Papstes, dessen Denkschema auf die Befreiung vom Kommunismus zielt und der die Befreiungstheologie, sowie die Kirche der Armen und ihren Basisgemeinden jahrelang bekämpft hat.


Christus, der Befreier

Christus ist auf die Welt gekommen,
damit die Menschen das Leben haben
und damit sie es in Fülle haben.
Daß niemand zu einem Gegenstand
zu einer Sache herabgesetzt wird,
daß die Menschenrechte keine
toten Buchstaben seien.

Laßt uns nicht Mißbrauch treiben
mit Christus, dem Befreier:
ein so großer Name, ein so tiefer,
ein so reiner Name
kann nur gegen jegliche Sklaverei
verwendet werden.

Dom Hélder Câmara


Quelle: Publik Forum - Zeitung kritischer Christen - 10. September 1999

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