In Brasilien sind auch zehn Jahre nach Ende der Diktatur Todesschwadronen aktiv. Die Opfer sind Kinder, Jugendliche, Arme, Menschenrechtler oder politische Gegner - die Gewalt nimmt zu.
Von Klaus Hart
An einem Februarnachmittag geschieht in Rio de Janeiro wieder einmal das, was viele in Europa für unvorstellbar halten: Sechs Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren springen in einen Linienbus und machen sich zweier "Vergehen" schuldig: Um nicht bezahlen zu müssen, passieren sie nicht das Drehkreuz des Busschaffners, sondern bleiben - wie es täglich Tausende Schüler und Arbeitslose tun - auf den hinteren Bänken. Sie lärmen und trommeln Disco- Rhythmen. Dem Schaffner wird es zu bunt: Er fordert zwei bewaffnete Sicherheitsbeamte der Busgesellschaft auf, die Jungen zum Schweigen zu bringen. Der Fahrer hält an, die sechs werden mit vorgehaltener Pistole zum Aussteigen gezwungen. Sie müssen sich in einer Reihe hinknien. Dann werden sie kaltblütig per Kopfschuß getötet. Die Mörder geben sich keine Mühe die Toten zu verstecken oder zu verscharren - sie bleiben bei Tropenhitze liegen. Ein Jugendlicher überlebte die Schüsse noch dreißig Minuten. Doch niemand rettet ihn: Die Killer hatten es den Passanten untersagt.
Gerade Kinder und Jugendliche werden immer wieder Opfer der Todesschwadronen:
Demonstration gegen Morde an Straßenkindern in Rio.
Die Bluttat wäre vermutlich von der Öffentlichkeit und den Medien ignoriert worden, wenn nicht gerade das Internationale Olympische Komitee über die Kandidatur der Sieben-Millionen-Metropole für die Spiele 2004 entscheiden würde. In weltweit geschalteten Image-Anzeigen hatten Brasiliens Machthaber für Rio getrommelt und stets argumentiert, daß sich Gewalttaten in allen großen Städten der Welt ereigneten. Nach dem Massaker war die Nervosität bei den Politikern groß: Anders als bei vorangegangenen Verbrechen dieser Art mußten Rios beste Kriminalisten Tag und Nacht nach den Tätern fahnden. Zeugen wiederum hatten sie Presseberichten zufolge zweifelsfrei erkannt: Einer gehört zu Rios Municipalgarde und wurde nach Aussage der engagierten Staatsanwältin Tania Salles Moreira stets als Mittäter genannt, wenn es in Bussen zu Exekutionen kam. Der andere führt eine der zahlreichen regionalen Todesschwadronen an.
Immer mehr Menschenrechtler, Sozialarbeiter, Künstler oder Kirchenleute, die gegen die Killerkommandos protestieren, werden mit Mord bedroht und müssen aus Sicherheitsgründen ihre Aktionen einschränken. Dies gilt auch für die jüngste Bluttat: Zwei der Ermordeten stammten aus Slums, in denen das auch mit Geldern der Bundesregierung arbeitende Sozialinstitut IBISS seit Jahren Projekte realisiert. Der niederländische Direktor Nanko van Buuren hatte als Arzt im gerichtsmedizinischen Institut die beiden Jugendlichen identifiziert - schon am Ausgang wurde er von zwei bewaffneten Männern erwartet. Sie drohten dem 48jährigen, ihn umzubringen, falls er sich in die Ermittlungen einmische und juristisch gegen die Busgesellschaft und ihr Sicherheitspersonal vorgehe. "In Europa", so van Buuren zum ai-Journal, "schenkt man wahrheitsgetreuen Berichten über die Realitäten in Rio gewöhnlich keinen Glauben. Das Ausmaß der Greueltaten gegen Arme und Verelendete wird für unwahrscheinlich gehalten."
Androhung von Gewalt gegen ein Kind in São Paulo.
Duque de Caxias, eine Satellitenstadt Rios, ist seit langem für seine Todesschwadronen berüchtigt. Gegen Bürgermeister Zito dos Santos läuft ein Prozeß, weil er den Mord an einem seiner politischen Gegner befohlen haben soll. Mehrere Menschenrechtler beschuldigen ihn, in Aktivitäten von Killerkommandos verwickelt zu sein. Zito dos Santos gehört zur Sozialdemokratischen Partei von Staatschef Fernando Henrique Cardoso.
Todesschwadrone sind nicht nur in Rio, sondern in ganz Amazonien sowie in Millionenstädten wie São Paulo, Salvador de Bahia, Recife, Fortaleza oder Manãus aktiv. In der Provinzhauptstadt Natal hatte der Menschenrechtler und Anwalt Francisco Gilson Nogueira gegen die größtenteils aus Polizisten bestehenden Kommandos recherchiert. Im vergangenen Oktober wurde er auf offener Straße von einem Unbekannten mit einer Maschinenpistole ermordet. Daraufhin forderte amnesty international in einer Eilaktion eine umfassende Untersuchung des Mordes und den Schutz anderer gefährdeter Menschenrechtler in Natal. Auch die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten drängte darauf, weiteren zehn Personen Polizeischutz zu gewähren.
Klaus Hart ist freier Korrespondent in Rio de Janeiro.
Quelle: ai-Journal - Das Magazin für die Menschenrechte von amnesty international - April 1997
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