Schießen mit "Wildwest-Zulage"

 Die Militärpolizei: ein Relikt der Diktatur


Die Militärpolizei Brasiliens ist heute gewalttätiger als während der Diktatur. Massaker an Häftlingen, Straßenkindern und Landlosen häufen sich. Menschenrechtler protestieren gegen eine "Wildwest- Zulage", die Ermordungen belohnt und zum Töten Unschuldiger anreizt.

Von Klaus Hart

Der schwarze Kleinstunternehmer Carlos Antonio da Silva aus Rio de Janeiro hat jetzt seine Frau begraben. Einige Tage zuvor war die 40jährige Krankenschwester Acilene da Silva nachmittags müde vom Hospital den steilen Weg zum Slum "Morro dos Macacos" hinaufgestiegen. Da stoppten zwei Autos mit Militärpolizisten, die sofort aus Maschinenpistolen zu schießen begannen. Spielende Kinder und heimkehrende Schüler rannten davon, hatten Glück - Acilene wurde tödlich getroffen. Erst unlängst hat Staatschef Cardoso den couragierten Selbständigen da Silva ausgezeichnet; jetzt zerstörte staatlich verordneter Polizeiterror sein Leben, Tochter Carla verliert die Mutter. Da Silva könnte resignieren und klein beigeben - wie üblich in solchen Fällen. Doch er will zu Rios Gouverneur Marcello Alencar und dessen Sicherheitschef General Nilton Cerqueira vorgelassen werden, gegen die "Polizeimonster" und die "Wildwestzulage" (Gratificação Faroeste), protestieren: "Diese Beamten kriegen für jeden getöteten Menschen eine Medaille!"

Bild 1 Beerdigungszug für ermordete Straßenkinder in Rio de Janeiro.


Die Militärpolizei: ein Relikt der Diktatur

Da Silva hat in der Sieben-Millionen-Stadt viele Verbündete. Auch amnesty international kritisiert schon lange die Politik in Rio de Janeiro, die auch offiziell mit der Parole "zuerst schießen, später fragen" umschrieben wird und die für die einzelnen Polizisten beträchtliche Lohnerhöhungen bedeutet. Folgerichtig töten Polizisten kaltblütig Verdächtige - und keineswegs nur solche. Auch James Cavallaro, Leiter des Büros der US-Organisation "Human Rights Watch" in Rio de Janeiro stellt fest: "Die Polizei geht auf die Straße, steigt in die Slums, um zu töten, weil es gut bezahlt wird. Die 'Gratificação Faroeste' ist ein klarer Anreiz zu Gewalt." Human Rights Watch ermittelte, daß in jüngster Zeit 95 Beamte jene Prämie erhielten, nachdem sie 75 Menschen erschossen und mehr als zwanzig verletzt hatten. Mehr als makaber: Ein einfacher Militärpolizist, der bei annähernd europäischen Preisen umgerechnet nur etwa 400 Mark verdient, hat so bis zu 150 Prozent mehr in der Lohntüte - plus Zulagen bei Beförderung. Seit dem Amtsantritt General Cerqueiras vor drei Jahren verdoppelte sich die Zahl der Opfer - von 16 auf 32 pro Monat. James Cavallaro bezieht sich ausdrücklich auf offizielle Polizeiangaben - belegt ist, daß aber nur ein Teil der Toten registriert wird.

General Cerqueira weist jede Kritik an seiner Schießprämie scharf zurück: Bei den Toten handele es sich um "Entführer, Räuber, Mörder und Vergewaltiger". Organisationen wie Human Rights Watch finanzierten sich vermutlich aus Mitteln der Wirtschaftskriminalität, der Mafia sowie der Geldwäsche und "bedrohen die nationale Sicherheit, konspirieren gegen den Staat". Der Sprachgebrauch kommt einem bekannt vor, und das ist nicht erstaunlich: Während der zwei Diktaturjahrzehnte bis 1985 gehörte der General zur gefürchteten politischen Polizei und zum Militärgeheimdienst SNI, verfolgte und folterte nach Angaben von Zeugen Oppositionelle. Mit Rio-Gouverneur Alancar ist er heute in der "Sozialdemokratischen Partei" PSDP von Staatschef Cardosos. Das "Sozialdemokratisch" im Namen ist Etikettenschwindel.

General Cerqueira ärgert auch eine neue Studie des brasilianischen Religionsforschungsinstituts ISER, das sich ebenfalls strikt an Polizeistatistiken hält. Resultat: in 697 Tötungsfällen wurden 65 Prozent der Opfer in den Rücken geschossen, sechzigmal konnte eine kaltblütige Exekution nachgewiesen werden. Ein Beispiel: Der 25jährige Saulo Santos wurde festgehalten und mit drei Schüssen ins rechte Ohr getötet. Die beiden Schützen wurden befördert.

Ermittelt werden von ISER zudem die gewalttätigsten Polizeioffiziere Rios. Bei den von Mauricio Ghedini und Alvaro Garcia geführten Aktionen kommt auf sieben Tote nur ein Verletzter. Im Dezember 1996 erschießen Militärpolizisten im Slum Acari mit Maschinenpistolen drei Jugendliche, die vor einer Mauer knien mußten. Ein Freund der drei, Zeuge der Exekution, will vor einem Anwalt aussagen - zwei Tage davor tötet ihn eine Eliteeinheit. Zum ai-JOURNAL sagt eine Rechtsanwältin: "Trotz meiner Bitte, einen Unschuldigen leben zu lassen, wird er vor meinen Augen exekutiert, einem Jungen wird das Bein abgetrennt - die Polizisten foltern mit rasch heruntergerissenen stromführenden Kabeln nicht selten auf offener Straße."

Kein Menschenrechtler bestreitet, daß bewaffnete Gangsterbanden und das organisierte Verbrechen konsequent bekämpft werden müssen. Doch Polizeiterror und Schießwut schaffen ein Klima der Angst und Einschüchterung. Therapeuten verweisen auf ein neues Syndrom: "Panico social".


Klaus Hart ist freier Korrespondent in Rio de Janeiro.


Quelle: ai-Journal - Das Magazin für die Menschenrechte von amnesty international - Februar 1998

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